Berlin Bromley von Bertie Marshall
Heute stelle ich einmal ein älteres Buch vor, 2008 erschienen, welches ich damals für Radiosub rezensiert hatte. Da wir am Wochenende im Suff darüber gesprochen haben, fiel mir ein, dass es hier noch kein Berlin Bromley-Post gab, obwohl er hier sehr sehr gut reinpasst...
Berlin Bromley ist das Pseudonym von Bertie
Marshall: der Vorname ist eine Reminiszenz an das Berlin der glamourösen
goldenen Zwanziger Jahre. Diese faszinierten den jungen Mann, seitdem er den
Film „Cabaret“ mit Liza Minelli sah.
Auch ein Album von Lou Reed heißt
so... Der Nachname lehnt sich an Bromley – der spießige Vorort Londons, in dem der fünfzehnjährige Tür an
Tür mit Siouxsie Sioux von den späteren Banshees lebt.
Der autobiografische Roman erzählt von der Zeit zwischen 1975 und 1978, als
Berlin Bromley gemeinsam mit Siouxsie
und vielen anderen Protagonisten der Punk-Szene im so genannten Bromley Contingent den Sex Pistols auf ihre Konzerte
nachreisen und mit ihnen Partys feiern. In der Nachbarschaft wohnt ebenso die
Familie David Bowies. Dessen Mutter
schenkt den Marshalls als Gastgeschenk eine Platte von ihrem Sohn, einem
Musiker, der gerade in den Anfängen ist. Berlin Bromley fällt auf, denn er
sieht sehr androgyn aus, bewegt sich anders als die anderen Jungen, er schminkt
sich und er lernt bald die verrückte Siouxsie kennen, mit der er um die Häuser
zieht. Sie machen die schwullesbische Clubszene unsicher, vertreiben sich die
Zeit im Laden von Vivienne Westwood
und Malcolm McLaren, und pfeifen
sich permanent Drogen ins Hirn. Der schüchterne Junge redet nicht viel, aber es
gefällt ihm, sich verrückt anzuziehen und im Dunstkreis DER Szene Londons zu
sein. Sie sind gegen diese Hippies, die sie verschmähen und von denen sie
angeekelt sind. Berlin Bromley ist auch derjenige, der mit Siouxsie in den Pub geht, er auf allen Vieren, an einer Leine, von Siouxsie geführt, im Pub eine Schale
Wasser ordert und sie ausschleckt, während das irritierte Publikum zuschaut.
Sie übertreiben beide die Show, so dass sie von den wütenden Menschen
hinausgeschmissen werden.
Dies ist eine der Episoden, die Bertie
Marshall in seiner Autobiografie erzählt. Er schildert eine verrückte,
glitzernde Welt, in der ein Junge seine Homosexualität entdeckt, in die schwule
Subkultur eintaucht und letztlich auf dem Straßenstrich landet. Er verlässt
sein langweiliges spießiges Zuhause, das er nicht ertragen kann, um zugedröhnt
in irgendwelchen Betten fremder Männer aufzuwachen. Seine Eltern verstehen
seine Lebensweise, aber vor allem seine Art sich anzuziehen und seine
Angewohnheit sich zu schminken, nicht. Ein ums andere Mal schmeißt die Mutter
die teuren Kosmetika in den Müll. Berlin hält das nicht aus. Von der Schule ist
er längst abgegangen, weil er auf der Jungsschule wegen seiner Androgynität
gehänselt und verprügelt wurde.
Dieser Roman erzählt von einem Jungen, der
sich selbst sucht, der einerseits desorientiert und zugedröhnt durch die Welt
zieht, immer im neuesten Fummel, andererseits aber in Tagträume und alte Bücher
flüchtet. Seine Lieblingsbücher sind Wild
Boys von William S. Bourroughs, Tagebuch eines Diebes von Jean Genet und Goodbye to London von Christopher
Isherwood. Seine
Bibel hieß A to B and Back Again von Andy Warhol. Er erträumt sich und lebt die eigenen Fassungen dieser Geschichten.
Häufig bezieht er sich in einzelnen Episoden auf diese Bücher, zum Beispiel als
er einen Mann kennenlernt, mit dem er eine Affäre hat und der ein Krimineller
ist.
Es ist eine glitzernde Welt und manchmal
sehnt man sich als Leser danach, auch in diese Welt eintauchen zu dürfen. Doch
gelegentlich fühlt man sich auch ein wenig von der Oberflächlichkeit dieser
Welt abgestoßen:
Wenn wir keine Clubs oder Konzerte besuchten, dann strömten wir auf
Partys. Jeder Anlass bot Gelegenheit, etwas Neues anzuziehen und zu posen,
posen, posen.
Manchmal bemitleidet man auch den Helden der
Geschichte, wenn er gnadenlos ehrlich und unprätentiös von seinem Leben damals
erzählt:
Arbeitslosengeld, Blowjobs bei reichen Arabern und Geld klauen bei
meinen Eltern – ich schlich mich immer noch zu Hause ein und bediente mich an
der Lohntüte meines Stiefvaters. Ich hatte genug Geld, um mir ein schwarzes
Fallschirmtop zu kaufen (ich bekam zehn Prozent Rabatt), eine schwarze
Bondage-Hose und marineblaue Spider-Man-Stiefel aus Wildleder.
Keine eigene Wohnung, aber Hauptsache man
sieht gut dabei aus. Orientierungslos streunt er durch die Gegend, auf der
Suche nach sich selbst.
Liebe, Lust, Wut, Raserei, Traurigkeit, Gedankenlosigkeit? Ich stumpfte
ab. Speed am Nachmittag, vielleicht eine Valium, mehr Speed, dann nach der
Arbeit, je nach dem, wieviele Kunden ich bedient hatte, mindestens noch mal
zwei, dann weiter zu Luise´ s, wo die anderen „anschaffenden Mädchen“ saßen und
auf den Dealer warteten, den ich „The Mandy Man“ nannte.
Bertie erzählt, dass er immer neidisch war
auf diejenigen, die berühmt wurden. Er hatte nur eine vage Idee, was aus ihm
werden sollte, Glamour und Ruhm spielten dabei eine Rolle. Aber nur was?
Später, sehr viel später, als aus ihm wieder Bertie Marshall wurde, begann er
Filme zu drehen und Bücher zu schreiben, zum Beispiel den viel beachteten Roman
„Psychoboys“.
Erst im Jahre 2001, lange nach seiner Zeit
als Berlin Bromley, besucht er das erste Mal Berlin, Teil seiner persönlichen
Mythologie. Er ist enttäuscht, weil er es provinziell, kalt, unglamourös und
erbarmungslos findet. Doch auch aus dieser Episode zieht er etwas Positives.
Durch Jon Savage inspiriert
beschließt er diesen autobiografischen Roman zu schreiben.
Boy George schreibt im Vorwort des Romans:
Dieses Buch wurde mit wohl überlegtem Sarkasmus und Witz geschrieben und
sollte von jedem aufstrebenden Modestudenten, Möchtegern-Außenseiter und jeder
besorgten Mutter gelesen werden. Man kann es schlecht weglegen. Na ja, ich
hätte es fast in den Kamin geworfen, als ich merkte, dass ich darin nicht ein
einziges Mal Erwähnung finde.
Nein, es ist nicht so gut, wie sich das in den Worten von Boy George anhört, das wirklich nicht - weglegen kann man es ganz einfach. Trotzdem ist es lesenswert, ist es spannend, wenn man sich für diese Zeit und vor allem für Gender- und Queer-Fragen und die glamourösen Siebziger interessiert.
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