Ausschnitt aus "Christoffer" von Thomas Reich
Rückblickend redete er sich ein, dass er harmlos die Strecke hätte entlangfahren können, ohne Zwischenfälle. Ohne Aussetzer. Doch wie schon oft erwies sich die Gelegenheit als besonders günstig, buchstäblich unwiderstehlich.
Er fuhr gerade durch eine kleine Ortschaft Richtung Bundesstraße, als er Melanie Deuner am Straßenrand sah. Nach Manier der Anhalterinnen streckte sie den Daumen raus. Der Zufall wollte es, dass auf ihrem Schild Nürnberg stand. Der Zufall konnte grausam sein.
Christoffer der Kavalier. Er konnte die junge Frau nicht einfach so stehen lassen. Er setzte den Blinker & fuhr rechts ran.
„Sie haben Glück, junge Frau, ich fahre auch nach Nürnberg. Springen sie rein.“
„Soll ich meine Reisetasche auf den Rücksitz legen?“
„Moment. Ich mach mal den Kofferraum auf.“
Christoffer verstaute ihre Tasche. Die Türen schlossen sich für sie wie ein Sargdeckel.
„Ich heiße Melanie, und du?“
„Sascha.“
Im Radio sprach jemand vom Wetter. Es sollte schlechter werden. Möglicherweise Regen.
„Was machst du in Nürnberg?“
„Ich besuche ein Musikfestival. Britpop total- Oasis, Blur, Robbie Williams und so.“
„Du wirst da ganz schön nass werden.“
„Ne, das Konzert ist in einer Halle.“
Das sonore Dröhnen des Motors.
„Und du?“
„Hm?“
„Na ich meine, was führt dich nach Nürnberg?“
„Ach so. Ich nehme teil an einem 5-tägigen EDV-Lehrgang. Demnächst wird bei uns in der Firma ein neues Anwendersystem eingeführt. Mein Chef hatte ja erst die glorreiche Idee, Vorerst nur einen Mitarbeiter pro Filiale zu schicken, der dann von Haus geschickt wird, um es den anderen dann beizubringen. Meine Güte! Allmählich wird der Alte etwas seltsam. Das hätte nie funktioniert.“
„Zum Glück arbeite ich noch nicht.“
„Du gehst noch zur Schule?“
„Ja. Ich mache nächsten Monat mein Abi.“
„Hm. Mit was Leistungskursen?“
„Deutsch und Geschichte.“
„Klingt interessant. Weißt du schon, was du später damit studieren willst?
„Ich denke mal Germanistik. Eigentlich bin ich mir selbst darüber nicht ganz im Klaren.“
Auf der Höhe von Oettingen fiel Christoffer etwas ganz anderes ein. Wenn er seine Route beibehielt, würde er an Dinkelsbühl vorbeikommen. Er erinnerte sich an letzte Dienstreise.
*
Er hatte dort Halt gemacht, um eine Stelle zum Austreten zu suchen. Hatte sein Auto in einem Feldweg abgestellt. Er wollte nicht direkt an der Straße pinkeln, also war etwa hundert Meter in den Wald hinein gegangen.
Nach dem Abschütteln war sein Blick auf eine verrostete Eisentür in einem Erdhügel gefallen, der von losen Blättern bedeckt war. Angestachelt von seiner Neugierde hatte er sich das näher ansehen wollen. Probeweise hatte an der Tür gerüttelt. Mit einem ächzenden Quietschen hatte sie sich geöffnet. In der Finsternis der Katakombe hatte er sein Feuerzeug angeschnippt. Der schwache Widerschein beleuchtete eine Art Korridor mit vier Kammern. Er hatte vermutet, dass das früher ein Bunker war.
*
An diese unterirdische Anlage dachte er jetzt. Eine schöne Gruft. So tief, wie sie im Wald lag, wäre sie bestimmt schalldicht. Schreidicht. Selbst noch bei Todesqualen. So wie es aussah, würde er mit Verspätung in Nürnberg eintreffen.
Die ersten Tannen rückten in die Nähe. Led Zeppelin im Radio mit „stairway to heaven“.
„Könntest du mir bitte meine Sonnenbrille geben? Sie liegt im Handschuhfach.“
Melanie öffnete das Handschuhfach und holte ein blaues Plastiketui heraus. Öffnete es.
*
Oft plante Christoffer seine Taten eher zufällig. Er hielt es mit dem Pfadfindermotto „Allzeit bereit“. Das mochte auch der Grund gewesen sein, warum er seine Sonnenbrille im Handschuhfach aufbewahrte. Das Etui enthielt nur einen fleckigen Wattebausch, den er vor jeder Fahrt ausgiebig mit Chloroform tränkte.
Der Anhalterin blieb ein kurzer Moment, um sich über den Inhalt der Box zu wundern, bevor Christoffers rechte Hand das Lenkrad verlies und ihr den Bausch ins Gesicht drückte.
Der Wagen geriet ins Schlingern, fuhr Schlangenlinien über die gesamte Fahrbahnbreite. Gewann dann wieder an Stabilität, fand schließlich in die Spur zurück.
Wären andere Fahrzeuge in der Nähe gewesen, hätte er es nicht gewagt. So aber hatte er freies Spiel.
Melanie fiel betäubt in ihren Sitz zurück. Christoffer fuhr lächelnd in den nahen Feldweg.
*
Er blickte auf die Uhr und zählte bis 30. Dann nahm er den Wattebausch aus ihrem Gesicht. Sicher war sicher. Er schleifte sie über die Grasnarbe Richtung Bunker. Schmiss sie ins Dunkel und kehrte zum Auto zurück. Stück für Stück schleppte er die Requisiten heran. Abschleppseil. Taschenlampe. Kassettenrekorder. Zu guter letzt den Gummihammer.
*
Das Verhörlicht hatte sie geweckt. Ein heller Strahl, mitten in ihr Gesicht. Geblendet blinzelte sie. Schnell merkte sie, dass sie sich nicht bewegen konnte. Ihre vom Körper abgespreizten Arme waren irgendwo in der unergründlichen Dunkelheit angebunden. Angst stieg in ihr auf.
„Ich weiß, dass du wach bist. In den nächsten Stunden wirst du ein paar gute Freunde kennen lernen.“
Christoffer kicherte amüsiert.
„Meinen ersten Freund kennst du bereits. Fred, die fröhliche Taschenlampe. Und wen haben wir denn da? Wenn das nicht Klatschi der Gummihammer und Sony der Kassettenrekorder sind. Sony wird sich liebevoll all deiner Schreie annehmen. Lass dich ruhig gehen.“
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