Ausschnitt aus dem Roman "Wunschmünzen" von T. Reich

Original: http://dirtydichter.blogspot.com/2012/02/ausschnitt-aus-wunschmunzen.html

Die Ebene, zu der er sich heute aufgemacht hatte, lag weiter oben. Der Aufstieg war mühsam, da der einzige Weg steinig war. Der restliche Hang war Sand, den die Zeit langsam abtrug. Vielleicht würde es diese Stätte einmal nicht mehr geben. Gegangen mit dem Wind. Dieser wehte kräftig, Sand gelang in die Lunge. Nun wurde er von einem trockenen Reizhusten begleitet. Sein linkes Kniegelenk brannte wie Feuer. Noch zwei Jahre bis zum Ruhestand. Sein Körper, einst zuverlässig wie eine deutsche Eiche, beharrlich allen Beanspruchungen trotzend, verließ ihn mehr und mehr. Er wurde zu alt für diese Arbeit.
Die Ebene war nicht groß, sie maß wohl zweihundert Ellen in der Länge und dreihundert in der Breite. In ihrer Mitte standen drei Kreuze. Kinder hatten sich eingefunden. Sie waren wie die Ratten, sie kreuchten und fleuchten überall herum, wo es sie nichts anging. Das Strobermädel hatte einen leinenen Sack dabei, aus dem sie die Raben mit trockenem Brot fütterte. War das Wut in ihren Augen? Genugtuung? Sie gab den Tieren Stärkung, die ihren Vater zerfledderten. Er hing dort oben, weil er das arme Ding mit der Schande des Blutes besudelt hatte.
Am linken Kreuz hing der alte Kilian. Ansgar schauderte. Dieser unscheinbare Mann hatte wie ein Wolf unter den Menschen gewütet. Vor langer Zeit waren sie zusammen in die Volksschule gegangen. Wie hätte er ahnen können, dass sie sich unter solch unglücklichen Umständen wieder über den Weg liefen? Wie gerne hätte er im Prozess für Kilian ausgesagt, denn er konnte ihn immer noch gut leiden. Aber als Henker stand ihm keine Stimme zu. Er mochte nicht glauben, dass dieses Monster, was die Trutzinger verstießen, einmal ein kleiner Junge gewesen war mit aufgeschürften Knien und fettigen Haaren. Die Zeit war ein grausamer Herrscher, der unvorhersehbare Wege ging.
Auch hatte er ihn alle paar Wochen in seiner Hütte besucht, und mit ihm eine Tasse Tee getrunken. Dabei war ihm nichts Besonderes aufgefallen. Wo sollte er denn die immensen Vorräte an Dörrfleisch verstecket haben, von denen die Bürger hinter vorgehaltener Hand tuschelten? Für Ansgar war Kilian ein friedfertiger alter Mann, der alleine draußen im Wald wohnte. Eher melancholisch als verschroben. Auch nachdem die Leichen auf seinem Grundstück gefunden wurden, war Ansgar zu keinem anderen Gefühle als Mitleid fähig. Obschon er wusste, dass es vielleicht an ihm sein würde, ihn zu richten. Und als er ihm die Nägel in die Handgelenke schlug, dachte er Ich habe ihn nie gekannt. So war es dann auch.
Unter dem mittleren Kreuz spielten zwei Jungen mit Klickerkugeln. Ansgar kannte diese Sorte nicht, sie waren weiß, in ihrem Inneren glomm ein grünliches Licht. Wenn sie gegeneinander prallten, wurde es heller. Offensichtlich handelte es sich doch nicht um Klickerkugeln, vielmehr spielten sie mit Glühkäfern. Kaum hatte er es erkannt, schnipste der Bengel mit den blonden Haaren eines der Tiere gegen einen der Balken, wo es mit knackendem Geräusch verstarb.
„Macht, dass ihr verschwindet, elende Rotzgören!“
Die Kinder zuckten zusammen, packten ihre Spielsachen und zogen in einer Karawane an ihm vorbei. Keines zog eine Grimasse, und doch mangelte es ihnen an Respekt. Sie waren verdrossen, hatten sie doch das vollste Recht, hier oben zu spielen.
Scharfrichter war ein angesehener Beruf. Sein Vater war einer gewesen, sein Großvater. Eine Familientradition. Die Menschen hatten Ehrfurcht vor ihm, sie achteten ihn als ein notwendiges Übel. Jedoch sein eigener Sohn scherte aus. Er hatte das Handwerk des Bäckers erlernt. Dennoch liebte er ihn. Doch wer würde nach ihm in Trutzingen das Henken übernehmen? Er war schon sehr alt, er würde keinen Burschen mehr in die Lehre nehmen können. Die Zukunft lag anderswo. Die Allmende würde im Fürstentum eine Stelle ausschreiben müssen.
Ansgar seufzte. Er zog den Sack von seiner Schulter und näherte sich den Toten. Mit einer Machete schlug er die Füße ab. Die Körper, nunmehr nur noch von den Nägeln in den Händen gehalten, sackten nach unten. Dabei knackte es ordentlich in den Schultergelenken. Von Leichenstarre keine Spur mehr. Sie hingen drei Tage, mussten Platz machen für die morgigen Hinrichtungen. Mit dem letzten Streich trennte er die Handgelenke durch, die Körper fielen nun zu Boden, wo sie aufplatzten wie reife Früchte. Einige Stücke hatten sich gelöst, was nicht weiter schlimm war. Die Raben flatterten bereits heran. Sie würden die Erde reinigen. Mit einem Brecheisen löste Ansgar Hände und Füße vom Holz. Die Kreuze selber blieben stehen, sie wurden einmal im Monat getauscht. Stehen blieben stets die Fundamente aus Knochenmörtel, die im Boden eingelassen waren. Zwei von ihnen ragten zu einem großen Teil aus dem bröseligen Boden heraus. Er würde mit Friedhelm sprechen müssen, damit er nach den Fundamenten sah. Ansgar schleppte die Körper zur Feuergrube. Mit einer Handkurbel warf er die Pumpe an, die das Maisöl von den tief darunter verborgenen Tanks zur Anlasserflamme beförderte. Ansgar warf die Leichen in die Blechwanne, drückte einen Hebel. Alles verschwand unter einem Schiebedeckel. Durch das rußige Sichtfenster verfolgte er den Verbrennungsprozess. Stinkende Schwaden quollen aus dem roten Backsteinkamin. Die Dorfbewohner würden wieder Fenster und Türen schließen. Plötzlich richtete sich einer der Körper auf, der halbverbrannte Totenschädel grinste ihn an. Ansgar schrie auf. Alterchen, es war nur eine normale biologische Reaktion. Wenn sie brennen, verziehen sie sich. Kein Grund zur Sorge.

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