Lobotomisierungen und Lifestyle-Revoluzzer

Im Literaturhaus Darmstadt geht es manchmal heiß her: Jeden ersten Mittwoch im Monat lesen zwei Literaten in der Lesebühne, gelegentlich, wie auch dieses Mal gibt es auch Musik dazu. Kurt Drawert, Leiter des Darmstädter Literaturhauses, moderiert dieses kunterbunte Treiben und schafft es immer wieder, spannende Themen anzureißen und den Kern des Gelesenen zu bestimmen und zu analysieren.




Jan-Erik Grebe, Psychologe von Beruf und unlängst nach Darmstadt gezogen, arbeitet an einem Psychiatrie-Roman, der in seiner Komplexität weit mehr als die üblichen Meinungsbilder liefert und hochbrisante Fragen stellt. Daraus las er vor. Beeindruckend war hier vor allem die Tatsache, dass da jemand aus Sicht einer Person schildert, die mittendrin steht - ein junger Mann in seinem Praxisjahr, der in eine Psychiatrie kommt, alles hautnah erlebt, und doch irgendwie drüber steht. Er berichtet von den Ärzten, von den Patienten, von den Selbstmorden in der Klinik. Aber von keiner Lobotomie, die man in Europa gar nicht mehr durchführt. In Amerika, und vor allem in amerikanischen Serien schon - diese Arten von Dramatisierung kommt bei Jan-Erik nicht vor. Nur der "normale Wahnsinn" in so einer Anstalt.




Es war eine Freude, Jan-Erik Grebes Stimme zu lauschen, wie er die verqueren Situationen schildert, in die sein Protagonist stolpert. Und spannend die Frage, inwieweit diese Geschichte ihm hilft, sich "selbst zu therapieren", denn immerhin sind biografische Anteile vorhanden. Es sei schon gut, darüber zu schreiben, es "jemandem erzählen" zu können. Wobei natürlich niemals etwas von den wirklichen Geschichten, die ihm passiert sind, vorkommen, das verbiete die Schweigepflicht, an die er sich strengstens halte. Gerne möchten wir mehr von ihm lesen, nämlich den ganzen Roman, der leider bisher noch unfertig und unveröffentlicht ist.




Den zweiten Teil bestritt Joscha Zmarzlik, der eine Ausbildung für klassischen Gesang beendet hat und abwechselnd in Freiburg und Genua lebt. Er las Gedichte und spielte eigene Lieder, mit denen er seine Vielfachbegabung unter Beweis stellte. Seine Beiträge waren von großer Vielfalt: Gedichte, die Genua zum Thema hatten, eine Reihe Berlin-Gedichte, drei Lieder, die sehr ironisch und lustig waren und ein Text, der Bomber heißt, und den Unabomber aus Amerika als Vorbild für die Hauptfigur hat.




Alle Texte und Lieder waren interessant, spannend. Aber die meiste Diskussion bot der "Bomber". Ein böser Text. Einer, der an Anders Breivik, dem norwegischen Attentäter, erinnerte, der allerdings den amerikanischen Unabomber zum Vorbild hatte. Diese Aggression, die hinter diesem Text steckt, dürfte uns allen bekannt sein. Vor allem vor Weihnachten. Die vielen Menschen in der Zeil, die uns im Weg rumstehen, die vielen Menschen in den U-Bahnen, die Latte Macchiato trinkenden Hipster, die Biomarkt-Einkaufenden, die sich für etwas Besseres halten, die gut gekleideten Bankkarrieristen etc. Ich stellte die Frage, ob Joscha den Eindruck habe, dass die Occupy-Leute vielleicht Lifestyle-Revoluzzer sind. Natürlich lässt sich diese Frage nicht beantworten, und natürlich war sie provokant gemeint - und eine Diffamierung könnte man darin auch sehen, sollte man aber nicht. Was ist denn heutzutage nicht Lifestyle? Und ist eine Widerrede, eine Gegenreaktion auf das, was gerade passiert, nicht das wichtigste von allem? Und ist es nicht schade, dass nicht JEDER auf der Straße steht? Dass nicht JEDER einfach DAGEGEN ist? Es geht so nicht mehr weiter. Aber Terrorismus ist keine Lösung dagegen... Und doch: dieser Text "Bomber" macht Spaß - und man wünscht sich auch hier mehr. :-) Ein spannender Abend, ein gelungener Abend! Mehr davon! ... Im Februar dann. :-)

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