Ode an meinen Kiez, das Nordend

Frankfurt sollte nur eine Übergangsstadt sein, so wie sie es für viele ist, nicht umsonst gilt sie als amerikanischste Stadt Deutschlands und vielleicht sogar Europas, und das nicht nur wegen der Skyline. Dieser Kompromiss wurde ausgehandelt: Drei Jahre in der Mitte Deutschlands leben und nach dem Studium des Partners weiter nach Berlin ziehen. Meinetwegen, willigte ich ein, und so landete ich eher aus Zufall im Nordend. Ein Freund meiner Schwester hatte einen kleinen Notizzettel in einem Copyshop gesehen, ihn sofort abgerissen und ihr per Email zugeschickt. Das kann man sich in der Zeit des Smartphones gar nicht mehr vorstellen. Ende 2004 war das. Als ich an der Haltestelle Musterschule ausstieg und die Eckenheimer Landstraße entlang ging, war ich bereits sehr negativ gestimmt. Ich dachte: sicher werde ich das eine hässliche Haus aus den Fünfzigern besichtigen müssen, zwischen den viel schöneren Gebäuden – und so war das dann auch. Drinnen war alles renoviert, es fehlte aber eine Badewanne, daher war ich nur mäßig begeistert. Doch ich hatte keine große Auswahl, eher überhaupt keine, alle neunzehn Wohnungen zuvor waren noch sehr viel schlimmer oder ich bekam sie aus welchen Gründen auch immer nicht. Selbst hier erschien eine Zusage eher unwahrscheinlich, denn der bequeme Vermieter hatte bereits eine Wahl getroffen. Nur: dieses Mal hatte ich Glück, derjenige sprang ab und ich war der glückliche zweite Sieger, der zum ersten wurde.
Das Nordend also. Es hatte nicht auf meiner Liste gestanden, Bornheim schon, das Westend, Bockenheim – da wollte man wohnen, sagten meine Freunde jedenfalls. Im Januar 2005 zog ich also in diese kleine Wohnung – und ich lebe nach wie vor darin. Den Absprung nach Berlin habe ich nie geschafft, anders als der Partner, der es nicht mehr ist. Jobangebote hatte ich tatsächlich, etwa 2007, es war also im Bereich des Möglichen. Doch mittlerweile fühlte ich mich hier in diesem Kiez wohl. 2010 hörte oder vielmehr las ich das erste Mal das Wort Gentrifizierung. Ich lief die Wielandstraße entlang und sah von weitem eine Kerze auf dem Bürgersteig, daneben ein Zettel, auf dem ein Kreuz, das Wort Nordend und die Todesursache Gentrifizierung standen. Das machte mich stutzig, ich beschloss zuhause zu recherchieren, was das Wort bedeuten sollte – es stammt vom englischen Wort „gentry“ ab, übersetzbar mit „niederer Adel“. Man benutzt ihn häufig in der Stadtgeographie bzw. –soziologie, er beschreibt einen sozialen Umstrukturierungsprozess eines Stadtteiles, wobei es sich um die Veredelung des Wohnumfelds handelt. Dies kann durch die Veränderung der Bevölkerung geschehen, meist wird sie durch Restaurierungs- und Umbautätigkeit begleitet.


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Zunächst wiederholte ich dieses Wort in Diskussionen immer wieder, schloss mich der motzenden Gruppe an, im Nordend gebe es zu viel Gastronomie, die Bewohnerstruktur ändere sich, der türkische Krämer zieht um, dafür eröffnen kleine neue „Hipsterläden“. Die teuren Mieten stiegen immer weiter an, weil man jedes zweite Haus renovierte, neue Wohnkomplexe baute – dies und das, es fiel uns immer ein Grund ein, sich aufzuregen. Und wenn es der Friedberger Erzeugermarkt am Freitag war – den wir 2005 und 2006 und selbst noch 2007 liebten. Doch es war wie überall sonst auch in Frankfurt. Nannte man etwas als Geheimtipp im Journal oder im Frizz, dann verliefen sich beim nächsten Mal die dreifache Menge an Menschen auf dieses „Event“ und irgendwann die zehnfache, wie 2015 das der Fall ist. Früher saßen wir aus dem Nordend mit unseren Nachbarn da herum, mit Kind, Hund und Kegel – jetzt ist das ein „analoges Single Tinder“ geworden, wie ich letztens auf Facebook las.
Mein Blick auf das Nordend ist mittlerweile ein ganz anderer, ich meckere nicht, ich fühle mich nicht unwohl, sondern ich bin stolz. Ich weiß nicht, was passiert ist, etwas hat sich verändert. Die Menschen sind so freundlich geworden, es erscheint mir alles so dörflich nett, alles lächelt sich an, spricht miteinander. In den kleinen Läden arbeiten keine „coolen Hipster“, sondern sympathische Menschen, mit denen sogar ich ganz unbefangen diskutieren kann. Alle scheinen sich hier zu kennen, die Ladenbesitzer miteinander zu kooperieren. In der lauschigen Weinstube steht man nie alleine und wähnt sich fast in Köln oder an anderen Orten, die für ihre Geselligkeit berühmt sind, im Holzhausenpark werde ich von mir unbekannten Menschen gegrüßt. Selbst die Kinder sind süß und benehmen sich total höflich.
Faszinierend  finde ich auch zwei frische Treffpunkte im Nordend, die all das sehr gut symbolisieren: die Trinkhalle am neu gestalteten Matthias Beltz Platz, wo man bei gutem Wetter bis zum späten Abend gesellig zusammensitzt; oder auch der Spielplatz vor dem Explora Museum: ein Schreiner hat Holztische und –stühle geschreinert und sie der Allgemeinheit gespendet, damit man sich da treffen und miteinander quatschen kann. Die Ladenbesitzer haben mehrere Initiativen gegründet, die Vereine im Nordend auch – es gibt mehrere Stadtteilfeste, Flohmärkte und ich weiß nicht was alles.
Es liegt also sehr am Nordend, dass ich Frankfurt immer mehr zu schätzen weiß, allerdings auch an der Zeit, in der ich StadtteilHistoriker in dieser Stadt war, die ich mittlerweile „Wahlheimat“ nennen kann. Da lernte ich so viel Neues über diese Stadt kennen … Ich sah andere Stadtteile, die ich noch nie besucht hatte, Griesheim fällt mir da ein, verstand Frankfurt besser. Mein Thema hatte auch sehr viel mit diesem Kiez zu tun …

Bornheim, das Westend oder Bockenheim finde ich immer noch schön und auch wohnenswert, aber das Nordend mit seiner Nationalbibliothek, mit seinem „Café Größenwahn“, mit dem „Cafuchico“, der „galeria pequeña“, mit der Unteren Bergerstraße, mit dem „Glücksladen“ und dem „Happy Fitness“ – da fühle ich mich zuhause, da möchte ich sein, Gentrifizierung hin oder her. Für mich ist das ein schönes Dorf in der Großstadt, mit netten Menschen und meinem Lieblingsbäcker, dem Lieblingssupermarkt und der „Blumenbar“, die ein Muss am Muttertag ist …

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