schmerzwach schreibt: Einfach so!
Ich denke, dass dieser Schnee das einzig Gute an meinem Pflichtbesuch ist, der macht dieses deprimierende Umfeld wieder ein bisschen wett. Gleich nach dem Aufstehen, noch vor dem Frühstück – ich bekomme sowieso keinen Bissen herunter – stapfe ich durch dieses kalte, weiche Weiß und erfreue mich an den Spuren, die ich hinterlasse. Weiß. Ich laufe bereits eine halbe Stunde, als ich plötzlich merke, dass ich müde werde. So lasse ich mich in den Schnee fallen und markiere einen Schneeengel. Ich erinnere mich daran, wie ich das zum letzten Mal gemacht habe: Mit Betty, auf der Freizeit mit unseren Studienkollegen in der Schweiz. Der Schnee um mich herum glitzert wild und herrlich schön, ich schaue in den klaren blauen Himmel, in meinen Augen blitzt es auf. Betty. Wie sehr vermisse ich dich, Betty. Wie. Sehr. Vermisse. Ich. Dich.
Als ich zurückkehre, bekomme ich wieder Ärger mit meiner Mutter. Mein Gott, ich bin 21 Jahre alt und sie schimpft mich aus, weil ich nasse Klamotten habe, sie behandelt mich immer noch wie ein Kind. Ich bin erwachsen, Mutter, erwachsen! Ich wollte diesem Weihnachtsbesuch entgehen, aber meine Mutter hatte mich erpresst, kein Besuch – keine finanzielle Unterstützung. So war das immer schon bei uns zuhause. Die Kinder erpressen, versuchen, sie kleinzuhalten, Spießigkeit und Null Toleranz. Ich würde gerne herausschreien, dass ich anders bin, dass ich genau das Gegenteil von dem bin, was meine Mutter sich wünscht. Und dass das genauso gut, wenn nicht besser ist. Doch ich traue mich nicht. Und weil ich mich nicht traue, fühle ich mich zuhause, also in meinem ehemaligen Zuhause, so unwohl. Doch wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich im Moment nirgends wohl, nirgends zuhause, nirgends zuhause, auch nicht in meiner Studentenbude, die noch vor kurzer Zeit mein Refugium, mein Ein und Alles war. Alles hat sich geändert, und daran ist Betty Schuld. Betty, die so selbstbezogen und kompliziert ist. Betty, die mich verlassen hat, die mich nicht mehr sehen möchte, die sich davon gemacht hat.
Ich telefoniere mit meiner besten Freundin Merle, die mir ständig nahelegt, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Dabei fängt sie immer von diesem Osho an, den sie nach ihren Bedürfnissen interpretiert, verfälscht. Merle sagt: Lebe im Augenblick, genieße dein Leben, lebe nicht in der Vergangenheit, vergiss Betty, who the fuck is she?, erfreue dich an dem Schnee, wie er fällt, wie du darin stapfst, schau dir den schönen Himmel an, vergiss dieses Wesen, lass dich bemuttern, bekochen, triff deine alten Freunde und erlebe etwas Neues mit ihnen.
Doch alleine dieses erste traditionelle Treffen mit meinen ehemaligen Mitschülern am gestrigen Abend überfordert mich: Auch sie haben noch die gleichen Schubladen, wie sie bei meiner Familie begegnen. Als ob man sich nicht veränderte, wenn man die Heimat verlässt, in eine andere Gegend zieht, andere Menschen kennenlernt, neue Dinge sieht, lernt, erfährt. Letztlich kann man sich doch erst dann finden, wenn man sich vom Alten löst, sich verliert, sich neu wiederfindet. Wieso beharren diese Menschen so sehr auf die Vergangenheit, auf das Bekannte, das Gewohnte?
Betty erschien mir so anders. Betty nimmt Drogen, trinkt, raucht, kifft, kokst. Betty hat verrückte Ideen. Betty wollte etwas vergessen. Ihre letzte Liebe. Fabian. Der achsogute und sensible Fabian! Sie wollte keinen Mann mehr, sie wollte Frauen, sie wollte der Mann sein, zog sich immer so an. Betty hatte in der Uni Anzüge mit Weste und Krawatte an, meist schwarz, manchmal in Brauntönen. Wenn sie ausging, hatte sie Hüte auf, solche wie sie Männer am Anfang des letzten Jahrhunderts trugen. Es stand ihr. Gerne malte sie sich auch Schnurbärte an oder schminkte sich Bartstoppeln. Das gefiel mir, die eher „alternativ“ rumlief, mit weiten Klamotten aus dem Second-Hand-Laden, gestreift, witzig, mit Blümchen, anders, nicht gerade tussig, im Gegenteil. Ich verabscheue diese Mädels, die wohl wie Julia Roberts sein wollen. Ich frage mich wieso.
Ich war mit einigen jungen Frauen aus einem Soziologie-Seminar noch etwas trinken, in so einer dieser Kneipen, die als „alternativ“, „links“ gelten, als ich Betty kennenlernte, die eine meiner Kommilitoninnen kannte, und sich zu uns setzte. Ich könnte nicht mehr sagen, wie es dazu kam, aber plötzlich fing Betty an, etwas von Dekonstruktion des weiblichen Geschlechts zu reden, was nur mich interessierte. Wir hörten gar nicht mehr auf, darüber zu reden. Es endete damit, dass ich mit zu Betty ging, und wir hitzig über Judith Butlers Ansichten diskutierten.
In Bettys ordentlichem, schön eingerichteten Schlafzimmer, mit hübschen antiken Kommoden, Frisiertisch, Nachttischen, einem Holzbett, das lustige Verzierungen hatte, durchwühlten wir zuerst den Schrank, um die passenden Outfits zu finden. Ich zog mir schwarze Strumpfhosen an, einen knappen schwarzen Mini-Rock, einen schwarzen BH und eine weiße Bluse darüber, die ich nur teilweise zuknöpfte, so dass der Blick auf meine weiblichen Reize freigelegt war. Betty zog einen schwarzen Nadelstreifenanzug an, allerdings nur die Hose und das Jackett, sonst nichts, was sehr aufreizend aussah. Dann schminkten wir beide uns, und setzten uns schwarze Männerhüte auf. Wir setzten uns in dieser Montur auf den Boden, auf dem wir bereits ein paar Sexspielzeuge, Autozeitschriften, Zigarren, Spielkarten und Whisky-Flaschen verteilt hatten. Wir richteten eine Spiegelreflex-Kamera auf uns, machten wilde Fotos in lustigen Verrenkungen. Es machte fürchterlichen Spaß. Wir versuchten männliche Posen nachzuahmen. Nach ein paar Aufnahmen begann Betty meine Bluse aufzuknöpfen, meine Brüste zu küssen und eng umschlungen mit mir zu unhörbarer Musik zu tanzen. Danach schob sie mich auf das Bett. Für uns beide war es das erste Mal mit einer Frau. So gingen wir behutsam vor, zärtlich, immer fürchtend, etwas nicht richtig zu machen, obwohl wir genau wussten, was der anderen gefallen müsste, und doch, die anerzogene Scham, der Respekt vor dem vermeintlichen Ekel, hemmte uns wohl zunächst. Allerdings nicht lange. Die Sicherheit, das Gefühl, etwas zu tun, was wir immer schon gemacht haben sollten, überkam uns, und dann wurde es wunderschön. Schöner als alles andere davor.
Ich sitze neben meinen alten Freunden, von denen ich mich so entfremdet fühle. Soll ich von Betty erzählen? Soll ich davon erzählen, dass dieser Sex mit ihr das größte Ereignis in meinem Leben bisher war? Noch aufregender als die Abiturs-Feier, die Einschulung oder der erste Freund? Alle um mich herum scheinen in die alten Muster zu verfallen, dazu gehört auch diese depressive Stimmung in diesem kleinen Kaff. Dieses „Und was machen wir heute, Leute?“. Und keiner weiß eine Antwort darauf, stützt den Kopf ab, sagt gelangweilt: Schütze? Why Not?! Oder doch McDonalds? Wenn es warm war, wurden immer wieder die Stimmen laut, die an den Rhein wollten, Wein trinken, einfach nur gammeln, und ein bisschen kiffen. Im ersten Jahr meines Fortgangs sagte ich mir jeden Tag mindestens einmal: Oh mein Gott, zum Glück bin ich weg da, zum Glück habe ich diese unsäglichen Depressiven nicht mehr um mich herum. Dann allerdings kamen in mir manchmal bestimmte Gedanken auf, dass diese Menschen viel mit mir zu tun hatten, mir ähnlich waren, viele Dinge genauso sahen wie ich. Das merkte ich immer wieder, wenn ich in meiner neuen Heimat Leute kennenlernte, die anders waren. Aber diese Beziehung zu Betty veränderte alles wieder. Können das meine alten Freunde hier verstehen? frage ich mich andauernd.
Betty und ich schauten uns einen alten 50er Jahre-Film an, in dem sich Wassernixen zu Musik bewegten, und dann entschied Betty, dass wir am nächsten Tag schwimmen gehen müssten. Das taten wir. Da wir sehr früh dran waren, hatten wir eine Menge Platz, und so fiel es uns leichter, die Figuren nachzuahmen, die die Frauen im Film vollführten. Drehungen und Schrauben, manchmal spiegelverkehrt, aber immer synchron. Wir waren ein perfektes Duett. Wir. Waren. Ein. Perfektes. Duett. Und wieso änderte sich das denn? Was war anders geworden bei Betty?
Soll ich es erzählen? Wenn ich gefragt werde, was ich das Jahr seit dem letzten Weihnachts-Besuch getrieben habe, kann ich nur ausweichend antworten. Ich könnte von meinem Studium erzählen, aber das ist doch langweilig. In meinem Leben gab es monatelang nur eine Tatsache: Ich war glücklich mit Betty. Nie war es langweilig mit ihr. Permanent fiel uns etwas ein, was wir unternehmen könnten. Wie wir Partys aufmischen, wenig spannende Ausstellungseröffnungen etwas origineller gestalten, wie wir zuhause rumgammeln und doch etwas Lustiges machen könnten. Wir waren sogar gerade dabei, eine Ausstellung mit eigenen Werken auf die Beine zu stellen. Und dann war sie plötzlich weg, spurlos verschwunden, nicht erreichbar, einfach weg, und ich allein. Es gab keinen Weg, an Betty ranzukommen, sie ging nicht ans Telefon, Briefe wurden nicht beantwortet, die Mitbewohnerin wusste nichts über den Verbleib, auch nicht die gemeinsamen Freundinnen, nichts, einfach nichts, so, als ob es sie nicht mehr gäbe, selbst die Eltern, die ich über Umwege erreichen konnte, wussten nichts.
Meine Mutter fragt mich permanent, wie es mir gehe, was ich in der großen weiten Welt mache. Doch was soll ich sagen. Nichts. Nichts. Nichts. Ich bin einfach froh, wenn ich hier wieder weg bin. Obwohl es egal ist: Überall bin ich fremd, weil Betty nicht da ist. Bei ihr fühlte ich mich Zuhause. Abends treffe ich mich erneut mit meinen alten Freunden. Irgendwann reden wir über unsere sexuellen Erlebnisse der letzten Zeit. Wie unangenehm. Doch dann platze ich plötzlich heraus, während der ehemalige Klassensprecher gerade von seiner letzten Eroberung vom Wochenende erzählt: Ich habe mit einer Frau geschlafen. Das scheint die anderen nicht zu verstören, nur zu überraschen, aber eher positiv. Das Mädchen neben mir: Ist ja spannend, und wie kam es dazu?
Einfach so, antworte ich, einfach so!
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