Murakamis Mahnung
Der heutige Gastbeitrag, über den ich mich riesig freue, weil ich Haruki Murakami sehr sehr schätze, stammt von Silke Wodniok, einer ganz lieben Kollegin aus der Textwerkstatt Darmstadt (Leitung Kurt Drawert). Silke Wodniok ist 1980 in Darmstadt geboren. Nach dem Studium der Sprachwissenschaft in Mainz, schreibt sie regelmäßige Beiträge für Tageszeitungen und hat eine eigene Sendung „Bücherwurm“ bei Radio Darmstadt. Bisher veröffentlichte sie eine Kurzgeschichte in der Anthologie Niemandsland im Literareon Verlag.
Murakamis Mahnung
Aomame steht mit dem Taxi im Stau. Sie kommt zu ihrem Termin zu spät, als der Taxifahrer ihr rät, einfach auszusteigen und eine geheime Treppe zu nehmen, verändert das ihr komplettes Leben. Im Laufe der Tage entdeckt sie am Himmel einen zweiten Mond, der etwas kleiner, grün und im Schatten des anderen steht.
Zur gleichen Zeit bekommt Tengo, der Mathematiklehrer, der selbst gerne schreibt, von einem Lektor ein attraktives Angebot unterbreitet, das er nicht ablehnen kann. Er soll das Buch „Die Puppe aus Luft“, von einer Achtzehnjährigen verfasst, so verändern, das es ein Bestseller wird und einen angesehen Preis bekommt.
Tragik á la Shakespeare gemischt mit George Orwells SciFi
Der unermüdliche japanische Geschichtenerzähler Haruki Murakami erzählt die Liebesgeschichte von Aomame und Tengo, die sich als Kinder das letzte Mal gesehen haben. Beide nun Anfang dreißig werden immer mehr in bizarre Geschichten verstrickt, bis irgendwann der zweite Mond auftaucht und sie sich sicher sind, dass etwas nicht stimmen kann. Fortan leben sie nicht mehr im Jahr 1984, sondern in 1Q84, einer Parallelwelt. Obwohl ihre Schicksale miteinander verknüpft sind, sind sie voneinander weit entfernt.
Die reale Welt, in der sie zuvor gelebt haben, wird immer mehr von einer dunklen Welt, mit dem kleineren Mond beherrscht. Unmittelbar mit diesem Ereignis kommen die „Little People“ ins Spiel. Sie sind Gestalten, die sich in die Gedanken der Menschen einpflanzen und zudem Duplikate der Personen erstellen, die in einem Kokon heranwachsen. Der Anführer dieser Gruppe ist der Leader, ein furchterregender Mensch, der bislang nur Grauenhaftes getan hat.
Die zunächst fiktive Geschichte „Die Puppe aus Luft“, die Tengo korrigiert und so zu einem populären Bestseller macht, hat die „Little People“ und ihre Geschichte zum Thema, allmählich merkt Tengo, dass etwas Merkwürdiges vor sich geht.
Von Parallelwelten …
Das Buch „Die Puppe aus Luft“ entpuppt sich als Tatsachenbericht. Tengo macht sich gegen Ende des Romans endlich auf die Suche nach Aomame, doch es ist schon längst zu spät. Sie dürfen nicht zusammen sein: Aomame, die den Auftrag bekommt, den Leader umzubringen, muss ihm versprechen, Tengo niemals wieder zu sehen.
„Puppe aus Luft“ fungiert als Kaninchenbau zu anderen „realen“ Welt. Während sich Aomame und Tengo, jeder für sich, immer mehr in ihrer Parallelwelt verstricken, erfährt der Leser, dass diese Kokon-Puppen, nur Duplikate der eigenen Seele sind, die die Welt aus den Gedanken der „Little People“ lenken.
Ein Kosmopolit auf ganzer Linie
Murakamis Roman 1Q84 lebt nicht allein von der Liebesgeschichte, sondern von den eindringlich und kompetent geschilderten Protagonisten, die in ihren beachtlichen Facetten, den Charakter des Einzelgängers widerspiegeln, sogar in ihrer Einsamkeit und in ihrem inneren Konflikt, die Tragik an sich schildern.
Murakamis weitreichende Kenntnisse über Politik, Kultur und Musik bringen Intensität in seine handelnden Figuren und seine Geschichte. Seine Heldin Aomame ist besonders, weil ihre Einzigartigkeit in den kleinen, speziellen Nebensächlichkeiten und Charaktereigenschaften liegen, die Murakami treffend zu beschreiben weiß. Beispielsweise liebt sie ältere Männer mit schütterem Haar. Sie liest historische Romane und sie mag die Sinfonietta von Janacek, einem tschechischen Komponisten.
Murakamis Mahnung
Der lakonische und zugleich poetische Schreib-Stil Murakamis erlauben es, in die fiktive Welt des japanischen Schriftstellers sofort einzutauchen. Diese Welt ist eine groteske, verwirrende und verdrehte Welt, in der es mehrere Wirklichkeiten gibt, die unser Bewusstsein zulassen. Nichts ist sicher in dieser Welt. Wie Gestrandete treiben seine Figuren in die Uferlose und erinnern an unsere eigene Haltlosigkeit in der tragischen Welt von heute.
Tiefgang haben seine Helden, weil sie so einzigartig, voller liebe und akribisch von Murakami gezeichnet sind, dass es einem schwer fällt, sie nicht zu mögen. Trotz der umfangreichen Handlung (mit 1020 Seiten) hinterlässt der Roman beim Zuschlagen eine Leere. Eine Geschichte mit Sogwirkung, die unbedingt dem begabten Geschichtenerzähler Murakami zu verdanken ist.
Haruki Murakami:1Q84, Köln: Dumont, Oktober 2010. 1020 S., 32,00 Euro.
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