Bitte steck mich nicht in Schubladen!


2006
„Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin…“ – ich laufe den Main entlang mit Tausenden von grölenden Menschen, die glücklich ihre Fahnen schwenken. Sie singen, sie lachen, sie freuen sich. Ich schaue sie mir an, lasse jede Skepsis, jedes Misstrauen, das ich gegenüber Patriotismus und Nationalismus hegte, fallen. Ich lasse mich von der Menge treiben, spüre einen wohligen Schauer. Ich habe gute Laune. Ich möchte tanzen. Mein Herz zerspringt vor Freude. 
Wer hätte das gedacht? 
Eine junge Frau stupst mich von der Seite an: „Sing mit, wenn du ein Deutscher bist, sing mit…“ Und ich singe. Sie lacht mich an und schenkt mir ein Bier. Plötzlich geht es nicht mehr weiter. Wir bleiben stehen an einem brasilianischen Stand: Hier bewegen sich alle zu Techno-Musik, stehen auf den Tischen, trinken, hopsen, singen. Ich denke: das sind also die Deutschen, die angeblich nicht feiern können?  

Als ich vor dem ersten Spiel an den Römerberg kam, wunderte ich mich doch stark. Wieso war alles weiß und rot? Viele nackte Oberkörper, viele attraktive Menschen. Und alle sangen oder schrien etwas auf Englisch. Manche Nackten sprangen in den Brunnen, ich dachte: wow, das wird eine geile WM! 

An einem anderen Tag: Ich lief ihnen nicht bewusst hinterher, doch sie hatten das gleiche Tempo wie ich. Vor allem angesichts der Tatsache, dass so viele Menschen am Museumsufer entlangliefen. Mexikanische Fans, aufgedreht, mit einem Megaphon in der Hand, Fußball-Lieder grölend. Jeden Latino redeten sie an, egal ob aus Brasilien, Argentinien oder sonst woher. Sangen mit ihren „Freunden“ deren Lieder. Tanzten. Gingen weiter ihres Wegs. Blieben stehen, wenn sie eine hübsche Frau sahen. Blieben stehen, wenn sie Alkohol-Nachschub brauchten. 
Die Treppe hinunter, Richtung brasilianischer Stand. Die Mexikaner in ihren grünen Trikots stehen bei den grün uniformierten Polizisten. Posieren. Machen ungefähr eine Million Fotografien. Andere Menschen kommen vorbei, finden die grüne gutgelaunte Legion witzig. Die Mexikaner grölen, die Polizisten lachen. Und werden fotografiert. Eine Viertelstunde später laufen sie weiter. Über die Untermain-Brücke. Nun singen die Mexikaner: „Deutschlaaaaaaaand, Deutschlaaaaaaaaand…“. Ein Junge nimmt ihnen das Megaphon aus der Hand, singt: „Berlin, Berlin, wir fahren…“. Und alle lachen und umarmen sich.

Ich stehe an einem Stand am Main, schaue auf einen Monitor. Ich bin gut gelaunt. Ich singe. „Ohne Frankreich fahren wir nach Berlin, …“. Neben mir jubeln Frauen aus Brasilien mit, feuern ihre Mannschaft an. Sie reden mich an, mal auf Englisch, mal auf Portugiesisch, was ich nicht verstehe. Ich möchte, dass Brasilien gewinnt. Ich weiß nicht warum. Neben mir die Franzosen. Ich singe sie nieder. Mache sie mir zum Feind. Plötzlich fällt das 1:0 für die Equipe Tricolore. Die ganze Häme ihrer Fans trifft mich. 
Die Brasilianerinnen und ich werden ganz ruhig. Sind deprimiert. Kurz vor den Tränen. Was interessieren mich die Brasilianer? Doch da kommt ein Trauma aus der Kindheit hoch. 1982. Elfmeterschießen: Frankreich gegen Brasilien. Und Brasilien verliert. Ich schmeiße eine Murmel auf den Fernseher. Jahrelang sieht man noch das Einwurfloch.

Ich fahre mit der U5 von der Musterschule zum Dom/Römer, um dann zur Main-Arena zu laufen. Ein kleines Kind sitzt neben mir, blond, sechsjährig, mit Deutschland-Trikot, es singt. „1954, 1974, 1990…“ Diese Fußball-Euphorie überall. Ich lache es an und freue mich. Mir gefällt mein Frankfurt, mir gefällt diese Stimmung, diese Freude überall. Natürlich liegt es auch daran, dass die sympathische, junge deutsche Mannschaft Sieg um Sieg einfährt, natürlich wäre die Laune etwas schlechter, wenn sie in der Vorrunde herausgeflogen wären. Doch Deutschland zeigt sich feiernd und als guter Gastgeber, das Wetter spielt auch mit. 
Damals dachte ich: Jetzt ist Deutschland so weit. Jetzt kann es endlich zu dem Einwanderungsland werden, dass es faktisch schon längst ist ... doch ich täuschte mich!

2015
Gleis 24 am Frankfurter Hauptbahnhof: Menschen aus Syrien, Afghanistan, Eritrea, aus dem Iran, aus Äthiopien etc. kommen völlig übermüdet an Gleis 24 an, sie werden von vielen, vielen Ehrenamtlichen aus Frankfurt begrüßt – die Geflüchteten sehen Transparente mit Willkommensgrüßen, kriegen Wasserflaschen in die Hände gedrückt. Sind wir wirklich willkommen? Diese Frage stellen sich wohl die meisten von ihnen, doch wie es auch sei, sie sind erst einmal angekommen und werden nicht wie in anderen Ländern getreten und in Gefängnisse oder ähnlichem gebracht. 

Gefühlt alle in meiner Social Media Filterblase engagieren sich für Geflüchtete, Bekannte von mir initiieren mit dem Hashtag #herzlichwillkommen eine tolle Foto-Aktion, in der geflüchtete Menschen in mehreren Sprachen willkommen geheißen werden, auch ich beteilige mich.

Ich beginne für eine Beratungsstelle für Asylantragsteller*innen zu arbeiten, entdecke nach und nach, dass immer mehr Menschen, die ich kenne, sich als Ehrenamtliche einsetzen, Deutsch-Kurse geben, Pat*innen werden, Sportprojekte initiieren und sogar einen Verein gründen, um LSBTIQ-Menschen zu helfen. Diese vielen Ehrenamtler*innen helfen da aus, wo die vielen hauptamtlichen Strukturen nicht mehr ausreichen. Die VHS ist längst überlastet und kann nicht noch mehr Kurse anbieten, die Geflüchteten brauchen neue Kleidung, weil der Winter naht, sie haben Kinder, die versorgt werden müssen ... 

Ich bin stolz auf meine Freund*innen und Bekannten in Frankfurt, sie spenden Fahrräder, Kleider, Spielzeug, Sportsachen und Geld, wenn ich sie darum bitte. Sie entwickeln Initiativen, damit die Neu-Frankfurter*innen sich besser integrieren können, gemeinsames Kochen, gemeinsames Spielen, Integrations-Cups, dies und das. Meine Freund*innen freuen sich auch, wenn ich sympathische Menschen mitbringe, die aus fremden Ländern kommen und sich freuen, in Frankfurt ankommen zu dürfen.

Ich erlebte tatsächlich viel Euphorie und Zusammenhalt in meinem Umfeld, als diese so genannte „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 stattfand, meine Freund*innen solidarisierten sich auf Demos mit meinen Klient*innen, sie kämpften gegen PEGIDA, AFD und Co. auf Gegen-Demos. 

Trotz Pegida und AFD, trotz NSU-Prozessen und falschen Signalen der CSU hatte ich erneut die Hoffnung, dass Deutschland endlich zusammenwächst, endlich das Einwanderungsland geworden ist, dass es de facto bereits ist. Wieder nichts! Erneut wurde ich enttäuscht!


2018
Doch Integration und Inklusion in die Aufnahmegesellschaft ist nichts Einseitiges, ich möchte gerne auch die andere Seite betrachten. 

Dienstagabend: ich sitze mit Neu-Frankfurtern beim Bouldern, sie sind sehr begeistert und treten auch selbstverständlich in Kontakt mit so genannten „Bio-Deutschen“. Und doch: ein junger Mann afghanischer Herkunft sagt mir, ich sei doch genauso Grieche, weil meine Eltern Griechen seien. Dieses Beharren auf die Abstammung ist kein deutsches Phänomen, viele Menschen mit Migrationshintergrund tun dies teils noch vehementer als Deutsche. Ich wage zu behaupten, dass ich mehr Konflikte mit Menschen anderer Herkunft über meine Herkunft habe als mit Deutschen. Klingt absurd, ist aber so. Im Laufe meines Alters werde ich immer seltener von der Aufnahmegesellschaft als PoC wahrgenommen. 

Dienstagmittag: ich sitze mit meinen Kolleg*innen beim Mittagessen, mein Kollege mit dem iranischen Hintergrund redet von griechischen Restaurants und deren Gepflogenheiten, er erwähnt immer wieder, dass ich ja kein richtiger Grieche sei und das alles nicht wisse. Ich versuche ihm erneut zu erklären, dass ich in Deutschland geboren und sozialisiert sei und ganz sicher weniger Ahnung von griechischen Restaurants habe als er, weil ich im Erwachsenenalter noch nie in Griechenland war und auch in Deutschland selten in griechischen Restaurants verkehre, im Gegensatz zu ihm.

Das erinnerte mich auch an meine Lehrerin im Gymnasium, die im Philosophie-Grundkurs ständig irgendwelche Andeutungen in meine Richtung machte. Irgendwann platzte mir der Kragen: ich erklärte ihr, dass wie ihr aufgefallen sein müsste, ich in Deutschland zur Schule gehe, hier sozialisiert werde und genauso viel Ahnung von griechischer Philosophie oder Mythologie habe wie ihre restlichen Schüler*innen, und dass ich ja offensichtlich Interesse an griechischer Philosophie habe und mehr dazu erfahren möchte – sonst hätte ich ja nicht diesen Grundkurs gewählt.

Ja, ich höre gerne griechische Musik und ich gehe zu Konzerten griechischer Künstler*innen, wenn welche in der Gegend stattfinden, ich schaue mir auch griechische Filme im Kino an, freue mich bei Olympia, wenn die griechischen Sportler*innen einlaufen, aber ich bin zum Beispiel kein Experte für griechische Politik. Warum? Weil ich noch nie in Griechenland gelebt habe. Ich habe keine Ahnung, wie schön Kos, Kreta oder Lesbos sein mögen – schlicht, weil ich da noch nie war. 

Letztens habe ich mich mit einem engen Freund gestritten, weil er sich darüber ärgerte, dass Özil und co. nie die deutsche Hymne mitsingen und ich dann sagte, dass sie das auch nicht müssten. Niemand sollte gezwungen werden, eine Hymne mitzusingen. Ich singe weder das Badner-Lied im Stadion mit, noch die deutsche Hymne noch habe ich jemals die griechische gesungen, obwohl ich dazu wohl gezwungen wurde als Kind. Ich finde es einfach ein Unding, daran Integration ablesen zu wollen. Es gibt andere Gründe, warum man die Nationalhymne nicht mitsingt, zum Beispiel, weil man sich keine Texte merken kann (was bei mir der Fall ist), weil man nicht vor Millionen seine unmusikalische Seite zeigen möchte (was bei mir auch der Fall wäre), weil man vielleicht Hymnen albern findet (was auch der Fall bei mir ist). 

Was man an diesem Text erkennt: NICHTS ist schwarz oder weiß, man kann auch nicht genau sagen, welche Kriterien auf das Thema Integration anwendbar sind, es ist rein subjektiv – und manchmal ist es vielleicht noch nicht einmal eine Frage von Integration oder nicht. Aber es ist eine persönliche Entscheidung, wie man sein eigenes Leben entwirft, welche Prinzipien einem wichtig sind oder eben nicht. Und gerne möchte ich daran appellieren, dass man nicht alles und jede*n in Schubladen stecken muss, dass man eine größere Meinungsvielfalt zulässt, dass man damit leben kann, wenn Menschen sagen, dass sie eigentlich gar nicht an dieses Konzept von Nation und Grenzen glauben. Und dass dies nicht der Forderung entgegensteht, dass die deutsche Aufnahmegesellschaft einsieht, dass sie in einem Einwanderungsland lebt und auch an einem Ort lebt, dessen Kultur und Traditionen ständig im Prozess, im Wandel sind. Darüber darf man sich eigentlich nicht ärgern, weil dies einfach IMMER schon so war – und das ist eine sehr schöne Sache, wenn man darüber nachdenkt. Vielfalt ist schön! Wie wäre es, wenn wir täglich Bratwurst und Schnitzel essen müssten? Keine Pizza, Pasta, kein Döner oder Falafel. Wie wäre es, wenn wir immer nur Sportfreunde Stiller und die Fanta4 anhören müssten? Wie wäre es, wenn wir nur den Tatort und die Pilcher Verfilmungen hätten? Etc. etc. 

Ich fühle manchmal eine Nähe zu Menschen, die einen anderen Hintergrund haben, einfach weil ich weiß, dass sie sich im Laufe ihres Lebens die gleichen Gedanken über Heimat und Fremde gemacht haben wie ich. Manchmal fühle ich eine Nähe zu Menschen, die diese Erfahrungen von Menschen mit Migrationshintergrund noch nie gemacht haben, die aber dafür die gleichen Filme, die gleiche Musik wie ich mögen, die mich mögen und die ich mag. Manchmal fühle ich eine Nähe zu Menschen, die so ganz anders als ich sind, die Situationen erlebt haben, die mir so fremd wie sonst etwas sind. Einfach weil sie sympathisch und spannend sind und liebenswert erscheinen. 

Manchmal fühle ich mich in Städten wohl, in denen Sprachen benutzt werden, die ich nicht beherrsche, und manchmal fühle ich mich in Städten unwohl, die eine "ähnliche" Kultur und Tradition wie die deutsche haben und deren Sprache ich beherrsche. Mir gefällt arabische Musik, obwohl ich kein Wort verstehe und im ersten Moment keine Nähe dazu habe, französische Musik finde ich meist eher nicht so interessant, obwohl ich jahrzehntelang an der Grenze zu Frankreich wohnte. 

Manchmal verteidige ich mein Deutschsein, manchmal verteidige ich mein Griechisch sein. Mal mache ich Spaß, mal meine ich es ernst.

Der Text beweist, dass es einfach so viele verschiedene Aspekte gibt, die man beleuchten kann und die sich teilweise völlig widersprechen und doch real und existent sind. 

Ich bin Jannis, ich bin schmerzwach und du kannst mich in keine Schublade stecken – und ich kann auch dich in keine Schublade stecken, in die du passt!

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