Der Leser - Teil 1
Einen Tag nicht zu reden ist nicht so schlimm wie einen Tag nicht zu lesen. Es hat etwas Beruhigendes an sich. Stundenlang unterwegs sein, viele Menschen sehen, doch mit keinem von ihnen ein Wort wechseln. Allenfalls ein kleines Nicken beim Betreten eines Ladens, ein winziges Lächeln beim Aufschauen in der Straßenbahn.
Heute morgen wachte ich zu früh auf. Die Baldriantropfen waren Schuld daran. Ich schlafe früh ein, welch Segen!, aber morgens liege ich dann die Decke hin und her wälzend, ständig neue Schlafpositionen ausprobierend im Bett und stehe bald entnervt auf. Ich ging joggen. Immer die gleiche Strecke. In einen Park, in dem keine Hunde erlaubt sind. Das ist wichtig, denn die stören mein Seelenheil. Die machen mich nervös. Dann muss ich das Joggen abbrechen, Endorphine werden nicht ausgeschüttet, ich habe schlechte Laune, fühle mich einsam und unglücklich, möchte mich umbringen. So nicht, mein Lieber, und ich rede wohlgemerkt nicht laut mit mir selbst. Das habe ich nie gemacht. Nur in Gedanken, unhörbar, nicht einmal die Lippen bewegen sich dabei. Beim Laufen beobachte ich die anderen Läufer, die Eltern und Erzieherinnen mit ihren unzähligen Kindern, die auf und ab rennen, mit Schaufeln aufeinander einschlagen, rutschen, klettern, schaukeln. Mein Gehirn joggt mit. Wie ein Hamster in seinem Laufrad drehen sich die immer gleichen Gedanken in meinem Kopf. Ich finde mich beinahe langweilig. In guten Momenten dreht sich eine gute Platte in diesen Windungen, mit eingängigen Rhythmen und Texten, die ich mir behalten kann. Das kann ich selten. Die Göttin Mnemosyne meint es nicht gut mit mir. Gedichte und Lieder kann ich mir kaum merken, selbst wenn ich sie zweihundert Mal höre bzw. sehe. Dafür vergesse ich nie die Unsinnigkeiten, die ich so denke und tue. Kann sie nicht aus meinem Kopf verbannen. Oft weine ich darüber, weil ich mich deswegen so sehr schäme. Obwohl ich meist die gleichen Menschen hier joggen sehe, bin ich noch nie mit einem davon in Kontakt getreten. Wie auch? „Schöner Tag zum Joggen heute, was?“ oder „hey, Sie sind heute aber spät dran!“ Das kann ich nicht. Oder will es nicht. Ich weiß es nicht.
Du redest ununterbrochen, sagt sie, wenn wir uns sehen. Ja, wenn. Wir sehen uns alle zwei Jahre. Sie kann es nicht wissen. Sie kennt mich anders. Vielleicht messe ich jede Person, die ich kennenlerne an ihr. Vielleicht muss ich deswegen eine Weile alleine bleiben. Vielleicht sogar einsam. Nach dem Joggen habe ich ausgiebig geduscht. Gefrühstückt. Und dann begann ich mein Lesen. Oft fahre ich nach dem Frühstück mit der U-Bahn in die Stadtbücherei und in die Universitätsbibliothek. In der Bahn sitze ich mit einem Buch, lese. Wenn nicht gerade einer dieser vielen Asozialen hier in dieser Stadt durch die Gegend grölt oder die Bahn brechend voll ist, zu Stoßzeiten, was mir das Fahren verleidet und sämtliche Endorphine, die einst ausgeschüttet wurden, mit einem Streich entführen, finde ich dort das Lesen besonders beruhigend. Ich komme mir dann wie ein meditierender Einsiedler vor. Nur das meine Berge, meine Sträucher, meine Tiere in diesem Fall Sitze und Menschen sind. Ich bin in einer anderen Welt. Und da ich früher sehr große Konzentrationsprobleme hatte, macht mich das stolz und zufrieden. Wenn ich in der Lage bin, mich in einen Roman oder noch besser: in ein kompliziertes philosophisches Werk zu versenken, trotz diesem Übel neben mir, dem Menschen, der sich weigert zu lesen, und viel lieber vor sich hin schnattert, dann bin ich beinahe glücklich.
Ich lese, um zu sein. Ich lese, um nicht schreiben zu müssen. Ich hasse das Schreiben. So viel lerne ich aus den Büchern, so viel Wissenswertes erfahre ich, Berichtenswertes, aber ich möchte nicht. Andere sollen schreiben, weil ich sonst sterbe. Ich sterbe, wenn ich schreiben muss. Ich sterbe erstrecht, wenn andere nichts mehr schreiben. Wenn ich einen Tag nicht lesen kann, fühle ich mich so, als wäre ich vierundzwanzig Stunden in einer Gummizelle eingesperrt gewesen. Oder wenn ich einen Tag keinen Ton Musik hören dürfte. Das sind vertonte Texte. Ich höre sie und habe Bilder im Kopf. Wie beim Lesen. Ich höre und lebe in einer Welt. Das Buch ist eine Welt. Das Lied ist eine Welt. Eine Zeit lang bin ich vormittags gelegentlich anstatt in die Bibliothek in einen Gartencenter gefahren und habe mir Pflanzen gekauft. Ein paar für die Wohnung, ein paar für meinen kleinen Balkon. Die letzteren sind eingegangen. Es gibt nichts Deprimierenderes als tote Pflanzen auf dem Balkon. Aber wenn ich mit einem Buch draußen sitze, stört mich das nicht. Ich sitze da selten ohne Buch. Höchstens wenn ich einmal in zwei Wochen Besuch von Leuten kriege, die rauchen. Die dürfen das nur auf dem Balkon. Selbst sie dürfte das nur dort. Auch im Winter. Manchmal sitze ich aber auch da und höre mir Lieder an. Auf dem Balkon höre ich eher Turin Brakes, Coldplay und Keane. In der Wohnung griechische Volkslieder, Weltmusik. Zum Mittanzen. Ich wedele durch die Wohnung, klatsche in die Hände. Manchmal sind die einzigen Töne, die ich an einem Tag von mir gebe, die griechischen Worte, die ich mitsinge.
Heute morgen wachte ich zu früh auf. Die Baldriantropfen waren Schuld daran. Ich schlafe früh ein, welch Segen!, aber morgens liege ich dann die Decke hin und her wälzend, ständig neue Schlafpositionen ausprobierend im Bett und stehe bald entnervt auf. Ich ging joggen. Immer die gleiche Strecke. In einen Park, in dem keine Hunde erlaubt sind. Das ist wichtig, denn die stören mein Seelenheil. Die machen mich nervös. Dann muss ich das Joggen abbrechen, Endorphine werden nicht ausgeschüttet, ich habe schlechte Laune, fühle mich einsam und unglücklich, möchte mich umbringen. So nicht, mein Lieber, und ich rede wohlgemerkt nicht laut mit mir selbst. Das habe ich nie gemacht. Nur in Gedanken, unhörbar, nicht einmal die Lippen bewegen sich dabei. Beim Laufen beobachte ich die anderen Läufer, die Eltern und Erzieherinnen mit ihren unzähligen Kindern, die auf und ab rennen, mit Schaufeln aufeinander einschlagen, rutschen, klettern, schaukeln. Mein Gehirn joggt mit. Wie ein Hamster in seinem Laufrad drehen sich die immer gleichen Gedanken in meinem Kopf. Ich finde mich beinahe langweilig. In guten Momenten dreht sich eine gute Platte in diesen Windungen, mit eingängigen Rhythmen und Texten, die ich mir behalten kann. Das kann ich selten. Die Göttin Mnemosyne meint es nicht gut mit mir. Gedichte und Lieder kann ich mir kaum merken, selbst wenn ich sie zweihundert Mal höre bzw. sehe. Dafür vergesse ich nie die Unsinnigkeiten, die ich so denke und tue. Kann sie nicht aus meinem Kopf verbannen. Oft weine ich darüber, weil ich mich deswegen so sehr schäme. Obwohl ich meist die gleichen Menschen hier joggen sehe, bin ich noch nie mit einem davon in Kontakt getreten. Wie auch? „Schöner Tag zum Joggen heute, was?“ oder „hey, Sie sind heute aber spät dran!“ Das kann ich nicht. Oder will es nicht. Ich weiß es nicht.
Du redest ununterbrochen, sagt sie, wenn wir uns sehen. Ja, wenn. Wir sehen uns alle zwei Jahre. Sie kann es nicht wissen. Sie kennt mich anders. Vielleicht messe ich jede Person, die ich kennenlerne an ihr. Vielleicht muss ich deswegen eine Weile alleine bleiben. Vielleicht sogar einsam. Nach dem Joggen habe ich ausgiebig geduscht. Gefrühstückt. Und dann begann ich mein Lesen. Oft fahre ich nach dem Frühstück mit der U-Bahn in die Stadtbücherei und in die Universitätsbibliothek. In der Bahn sitze ich mit einem Buch, lese. Wenn nicht gerade einer dieser vielen Asozialen hier in dieser Stadt durch die Gegend grölt oder die Bahn brechend voll ist, zu Stoßzeiten, was mir das Fahren verleidet und sämtliche Endorphine, die einst ausgeschüttet wurden, mit einem Streich entführen, finde ich dort das Lesen besonders beruhigend. Ich komme mir dann wie ein meditierender Einsiedler vor. Nur das meine Berge, meine Sträucher, meine Tiere in diesem Fall Sitze und Menschen sind. Ich bin in einer anderen Welt. Und da ich früher sehr große Konzentrationsprobleme hatte, macht mich das stolz und zufrieden. Wenn ich in der Lage bin, mich in einen Roman oder noch besser: in ein kompliziertes philosophisches Werk zu versenken, trotz diesem Übel neben mir, dem Menschen, der sich weigert zu lesen, und viel lieber vor sich hin schnattert, dann bin ich beinahe glücklich.
Ich lese, um zu sein. Ich lese, um nicht schreiben zu müssen. Ich hasse das Schreiben. So viel lerne ich aus den Büchern, so viel Wissenswertes erfahre ich, Berichtenswertes, aber ich möchte nicht. Andere sollen schreiben, weil ich sonst sterbe. Ich sterbe, wenn ich schreiben muss. Ich sterbe erstrecht, wenn andere nichts mehr schreiben. Wenn ich einen Tag nicht lesen kann, fühle ich mich so, als wäre ich vierundzwanzig Stunden in einer Gummizelle eingesperrt gewesen. Oder wenn ich einen Tag keinen Ton Musik hören dürfte. Das sind vertonte Texte. Ich höre sie und habe Bilder im Kopf. Wie beim Lesen. Ich höre und lebe in einer Welt. Das Buch ist eine Welt. Das Lied ist eine Welt. Eine Zeit lang bin ich vormittags gelegentlich anstatt in die Bibliothek in einen Gartencenter gefahren und habe mir Pflanzen gekauft. Ein paar für die Wohnung, ein paar für meinen kleinen Balkon. Die letzteren sind eingegangen. Es gibt nichts Deprimierenderes als tote Pflanzen auf dem Balkon. Aber wenn ich mit einem Buch draußen sitze, stört mich das nicht. Ich sitze da selten ohne Buch. Höchstens wenn ich einmal in zwei Wochen Besuch von Leuten kriege, die rauchen. Die dürfen das nur auf dem Balkon. Selbst sie dürfte das nur dort. Auch im Winter. Manchmal sitze ich aber auch da und höre mir Lieder an. Auf dem Balkon höre ich eher Turin Brakes, Coldplay und Keane. In der Wohnung griechische Volkslieder, Weltmusik. Zum Mittanzen. Ich wedele durch die Wohnung, klatsche in die Hände. Manchmal sind die einzigen Töne, die ich an einem Tag von mir gebe, die griechischen Worte, die ich mitsinge.
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