Charles Burns: X


Kein leichter Anfang, fürchte ich, ist die Graphic Novel „X“ von Charles Burns – und doch ist es am Ende das erste Buch seit Jahren, dessen Fortsetzung mich tatsächlich brennend interessiert. Graphic Novels zu lesen hatte ich mir vor einiger Zeit bereits vorgenommen: Vom 18. Dezember 2008 bis zum 22. März 2009 fand im Frankfurter Jüdischen Museum die fabelhafte Ausstellung “Superman und Golem: Der Comic als Medium jüdischer Erinnerung” statt, die vorher auch in Amsterdam und Paris mit großem Erfolg gezeigt worden war. Dabei stieß ich auf „Ein Vertrag mit Gott” von Will Eisner (Carlsen), „Maus“ von Art Spiegelmann (S. Fischer) und „Die anderen Mendelssohns“ von Elke R. Steiner (Reprodukt). Erst jetzt, Jahre danach, schaffte ich es, mich mit Graphic Novels näher zu beschäftigen. 
Doch was sind Graphic Novels eigentlich? Will Eisner und sein gerade genanntes Werk ist ein gutes Stichwort, denn als er in den Siebzigerjahren auf eben diesen „Comic“ den Zusatz „Graphic Novel“ schrieb, wollte er damit herausstellen, dass dieser als Literatur verstanden sein möchte, und explizit von einem erwachsenen Lesepublikum rezipiert werden sollte. Das war der Startpunkt für ein eigenes Segment, das formal dem Comic zuzuordnen ist, sich aber in viele verschiedene Richtungen ausdifferenziert hat. Nicht immer ist der literarische Anspruch der höchste, doch auch diesen gibt es, bei der Büchergilde Gutenberg findet sich ein sehr schönes Büchlein von E.T.A. Hoffmanns „Das Fräulein von Scuderi“ (mit einem Nachwort von Alexandra Kardinar und Volker Schlecht), im Herbst wird die „Traumnovelle“ von Arthur Schnitzler als Graphic Novel herausgegeben. Autobiografisch inspirierte Geschichten, Reiseberichte, lyrische Erzählungen, stehen genauso auf dem Programm der Verlage wie Biografien, Kinder- und Jugendbücher, Krimis und Titel aus den Bereichen Fantasy und Science Fiction.
Ein besonders verdienter Verlag im Segment „Graphic Novels“ ist der Reprodukt Verlag aus Berlin, der mit zahlreichen hervorragend besprochenen Werken wie Craig Thompsons „Habibi“ oder einer Graphic Novel-Version von „Paul Austers Stadt aus Glas“ von Paul Karasik und David Mazzucchelli aufwarten kann. Zu den Autoren des Verlags gehört auch der 1955 in Washington, DC geborene Autor Charles Burns, der auch Illustrationen für „The New Yorker“ oder „Rolling Stone“ und Bühnenbilder und Plattencover für Rockstars wie Iggy Pop („Brick by Brick“) entwarf.
Charles Burns macht es dem „Novizen in Sachen Graphic Novel“ nicht gerade einfach mit seinem Werk „X“. Düster ist es, geheimnisvoll, vor allem verstörend – die Grenzen zwischen Imagination und Wirklichkeit verschwimmen. Sind wir – genauso wie der Protagonist Doug in seinem Fieberwahn –  gefangen in einem bösen Alptraum, aus dem wir uns beim Lesen nicht befreien können? Doug wacht in einem erbärmlichen Zustand auf, er hat Fieber, er weiß beim Aufwachen nicht, wo er ist, was ihm gerade geschieht. Er läuft durch ein Loch in der Zimmerwand, doch wo gelangt er hin? In seine eigene Vergangenheit? In eine neue Welt, die nur für ihn real ist? Der Leser begleitet ihn an einen Ort, an dem ganz merkwürdige grüne Echsenwesen das Kommando haben. Noch eigenartigere Wesen bereiten Omeletts aus rot gepunkteten weißen Schlangeneiern zu. Doug findet in seinem eine kleine Echsenlarve. 
Doug erinnert sich an die Zeit, in der er Sarah auf einer kulturellen Veranstaltung näher kennen lernt, auf der er eine an William S. Burroughs angelehnte Performance zum Besten gibt, die allerdings nicht sonderlich gut ankommt. Sie sind beide im gleichen Fotokurs, sie hatten aber noch nie miteinander geredet. Mit Sarah beginnt ein unheilvoller Trip für Doug, drogengeschwängert, morbide und undurchsichtig, der mit einem Schweinefötus, Koks und Polaroids zu tun hat. Am Ende von „X“ wird eine hübsche Frau (ist es Sarah?) in einer Sänfte an ihm vorbeigetragen. Doch wo wird sie hingeführt? In „die Kolonie“ wird ihm mitgeteilt – doch was ist diese Kolonie? Die Auflösung gibt es in der gleichnamigen Graphic Novel.
Nein, es ist kein einfacher Anfang, aber ein lohnender – von der ersten Seite an wird man in diesen düsteren Alptraum mit hineingezogen, man kann das Werk nicht mehr aus den Händen legen, obwohl man verstört und auch ein bisschen abgestoßen ist. Düster sind die Bilder, im wohl symptomatischen harten Schwarz-Weiß-Strich des Künstlers Burns, schrecklich gar ist diese fremde Welt, in die man kurz eintaucht, aber sehr froh ist, wenn man wieder in die eigene Welt zurückkehrt – in der lebendige Farben und die Sonne präsenter sind.
Charles Burns „X“, Reprodukt Verlag, 2012. Aus dem Amerikanischen von Heinrich Anders, Handlettering von Michael Hau, 56 Seiten, farbig, 22 x 29,5 cm, Hardcover, ISBN 978-3-941099-93-7, EUR 18,00 

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