Wahrheit oder Ironie
Im Studium besuchte ich das Seminar "Alltägliches Erzählen", meine Professorin behauptete, das jeder Mensch 15 - 20 Geschichten auf Lager hat, die er für interessant befindet, und die er bei jedem Kennenlernen (vielleicht in unterschiedlicher Reihenfolge) erzählt. Eine meiner Geschichten könnte sein:
In der Schulzeit hatte ich mit Andrea immer Donnerstag in der fünften Stunde eine gemeinsame Freistunde. Eines Tages sagte ich zu ihr: "Hey, Andrea, alle Jungs aus der Stufe stehen auf dich." Sie lachte ungläubig und erwiderte: "Ach, als ob ich dir glauben könnte. Du erzählst doch die ganze Zeit nur ironische Sachen und so." Ich war tief getroffen, weil ich immer alles ernst meinte, was ich dachte. Zumindest kam es mir vor. Auch hatte ich nie von dieser Theorie gehört, dass jeder Mensch 200 Mal am Tag lügen soll. Da! Da ist die Fallgrube der Sprache: um einer Person nicht vor den Kopf zu stoßen, muss man entweder die Wahrheit geschickt verschleiern oder gleich ganz - aber trotzdem subtil - lügen. Lüge, Heuchelei, Schmeichelei, Ironie, Zynismus, Sarkasmus und dergleichen sind so nahe beisammen, dass man sehr aufmerksam sein muß, wenn man sie auseinanderhalten will. Nach dem Gespräch mit Andrea K. hatte ich eine Idee: Am nächsten Tag kam ich mit einem Schild in die Schule. Auf der einen Seite stand IRONIE, auf der anderen Seite WAHRHEIT. Ein nettes Experiment, das ich bald abbrechen musste, weil ich die Sinnlosigkeit dessen zu deutlich empfand. Wie oft laviert man sich mit Ironie und nicht ernstgemeinter Schmeichelei durch den Tag, um Krisen und Streitigkeiten zu vermeiden, bei der Empfindlichkeit der meisten Menschen kommt man da gar nicht drum herum, so ehrlich und wahrhaftig man sein möchte. Ich ertappte mich also ständig dabei, wie ich die anderen aber auch mich selbst belog.
Nun, in diesem Seminar "Alltägliches Erzählen" machte ich meine Abschlussprüfung in Interkultureller Erziehung - Bereich Sprachwissenschaft. Dazu musste ich zuerst ein Interview in einer "fremden" Sprache mit dem Thema: Erzähl mir eine "alltägliche" Geschichte führen. Ich fragte die Schwester eines griechisch-stämmigen Freundes. Das Transkribieren war ein Drama: Sie hatte so schnell Griechisch geredet, dass ich kaum mitkam, dann musste ich es eins zu eins übersetzen und dann sinngemäß. Ich glaube, das Fünfminuten-Interview brauchte 30 Seiten Platz...
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