Marianna erschrak...

... Marianna erschrak, als sie feststellte, dass sie jemand beobachtete. Wie lange er wohl schon da saß, ohne dass sie ihn bemerkt hatte? Sie hatte nichts gespürt, überhaupt nichts. Wie sollte sie nun reagieren? Es war merkwürdig, sie war nicht außer sich, wie sie es in so einem Moment sein sollte: er hatte ihre Privatsphäre missachtet, sie aus ihren Träumen geholt, aus ihrer Ruhe, aus einer Geborgenheit und Sicherheit, die sie sonst nie verspürte. Und doch konnte sie ihm nicht böse sein, wie er sie nun mit seinen braunen Augen fixierte, ohne etwas zu sagen. „Wie heißt du?“ fragte sie ihn unvermittelt und Falk erschrak nun seinerseits. „Du bist krank“, platzte es aus ihm heraus. „Hast du etwas Schlimmes?“ wollte er wissen. Marianna wusste nicht, wie sie darauf antworten sollte. Sie schwieg. Wieso diese Frage? Kannte er sie? Wollte er sich über sie lustig machen? Was sollte das alles? Sieht man mir das an? Ich saß doch einfach nur da, verträumt, abwesend, ruhig. Was will er von mir? Sie begann aus Überforderung heftig zu weinen. Falk nahm sie spontan in den Arm, mehr aus Unsicherheit – ihm fiel nichts anderes ein, was er machen könnte. Sie ließ es mit sich geschehen und es tat so gut. Sie wollte weinen. Solange bis keine Tränen in ihr waren. Solange bis sie Halsschmerzen vom Schluchzen bekam. Sie wollte nicht darüber reden, einfach nur heulen. Er hingegen fühlte sich in dem Moment wohl, er flüsterte ihr zu: „Ja, weine, meine Liebe, weine nur, ich bin für dich da!“ und strich ihr über den Rücken, über die langen Haare. Falk spürte Nähe, Verbundenheit, Liebe in diesem Moment. Die Musik hörte er wieder, von diesem Film mit der kranken Frau, deren Mann sie nicht loslassen konnte. Sie hatte ihre Krankheit, ihren bevorstehenden Tod akzeptiert, sie hatte ihre Ganzheit gespürt, in seinen Armen, in seiner Liebe, für immer und ewig, und sie konnte sterben. Sie ließ ihn zurück. Falk musste nun ebenso weinen. Wegen der Musik, die er gerade hörte? Wegen des Films, den er ehemals angeschaut hatte? Wegen der unbekannten Frau, die in seinen Armen lag? Was hatte sie nur? War sie wirklich krank? Fand er sich nun in der gleichen Situation wieder wie im Film, als er sich mit der Hauptfigur identifizierte? Ihr Schluchzen wurde nicht etwa leiser, sondern immer lauter, so als wäre ihr jetzt noch ein Grund eingefallen, ihre Trauer hinauszulassen. Marianna dachte nichts mehr, sie ließ sich einfach gehen und das tat so gut, sie wollte ewig in dieser Situation ausharren. Sie hob immer wieder kurz den Kopf an, weil es ihr trotz allem ein bisschen unangenehm war vor diesem Unbekannten, und versuchte einfach aufzuhören zu weinen, doch sobald sie ihm in die Augen schaute, begann sie erneut aufzuschluchzen und sogar noch heftiger als zuvor. Was ist in meinen Augen? fragte sich der junge Mann daraufhin. Wieso reagiert sie so, wenn sie mich anschaut, gerade so, als hätte ich ihr Leid zugefügt? „Lass alles raus, meine Liebe, ich bin für dich da. Weine, meine Liebe, weine, solange du möchtest.“ Er wusste nicht, woher er die Worte nahm, und nicht, wieso sich die fremde Frau darauf einließ. Aber es machte ihn in gewisser Weise glücklich. Doch natürlich auch ein wenig hilflos, denn er wusste nicht, was mit ihr war und er wollte doch so gerne helfen. Seine Gedanken gerieten zu laut: „Was ist? Was hast du denn? Du kannst es mir gerne erzählen!“ Sie schaute ihn an und sagte schluchzend: „Nein, es ist nichts. Andere Leute haben auch Sorgen. Kümmere dich nicht darum.“ – „Aber es sind deine Sorgen und sie sind für dich wichtig! Du kannst sie mir erzählen!“ Allerdings reagierte sie nicht darauf, sie drückte sich nur heftiger in seine Arme und vergoss noch mehr Tränen, schluchzte lauter, und die Musik in Falks Ohren wurde durchdringender, ähnlich einer Explosion. Er begann zu weinen. Weine ich um sie? Weine ich um mich? Weint man nicht immer um sich? Weil man an den Tod denkt, an Verlust, an Krankheit, an Verderben – und zwar an sein eigenes Verderben, seine eigene Krankheit, sein eigenes Ende? Und nun fielen ihm alle Menschen ein, die er in seinem Leben verloren hatte. Und er drückte nun Marianna fester an sich. Es tat ihm gut, es tat ihm merkwürdigerweise gut – erneut fühlte er diese Verbundenheit mit ihr, mit ihrer Seele vielleicht – mit ihrer Trauer? Bestimmt eine halbe Stunde lag sie ihm nun in den Armen und weinte, ohne zu verlautbaren, was sie bedrückte, auch ohne zu wissen, wie ihrer beiden Namen lauten. Doch war das in diesem Moment wichtig?...

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