Der Falk...
...Das Läuten der Türglocke riss ihn aus seinen Träumen. Oh nein, dachte er sich, ich habe meinen Termin völlig vergessen; allerdings ist das, wenn man seine Praxis in der eigenen Wohnung hat, nicht ganz so fatal. Er stolperte zur Tür und betätigte den Summer, damit seine Klienten in das Haus treten konnten. Wer war es noch einmal? Ach ja, er wusste es wieder: Ein kleiner drolliger Junge und seine Mutter, die auf ihn einen weit problematischeren Eindruck machte als der Kleine. „Kommen Sie doch herein!“ forderte er die beiden auf. Er öffnete die Tür zum so genannten Behandlungszimmer und hieß sie, sich zu setzen. „Machen Sie es sich bequem! Fabio, du kannst dich hinsetzen, wohin du möchtest!“ Falk hatte darauf geachtet, dass es möglichst viele verschiedene Sitzmöglichkeiten in diesem Raum gab. Im Grunde genommen waren in diesem Raum nur Sitzmöbel zu finden, Sitzsäcke, Drehstühle, Sessel, ein Schaukelstuhl, eine Recamiere und ein kleiner Tisch, auf dem Bücher und Zeitschriften auslagen. Er hatte kein Wartezimmer, dafür standen vor dem Behandlungszimmer zwei Holzstühle. Seine Klienten durften sich gerne kennen lernen, sie waren nicht „krank“, teilweise noch nicht einmal „Fälle“ für einen Psychologen oder eine Psychotherapeutin. Falk nannte seine Praxis eine philosophische Praxis. Die Zielgruppe waren Menschen, die metaphysische Fragen hatten, die über ihr Leben, über ihre Ziele, über den Sinn und Unsinn ihrer Handlungen und Unterlassungen nachdenken wollten, die vielleicht eine Traurigkeit, eine Melancholie fühlten, oder aber auch eine Leere. Menschen, die neue Wege suchen und betreten wollten, die einen weiteren Horizont erklimmen mochten. Aber seine alten Kollegen, die Schulsozialarbeiter der Umgebung schickten ihm immer wieder Schülerinnen und Schüler, bei denen sie Schwierigkeiten hatten oder deren Eltern unbedingt Hilfe „von außen“ in Anspruch nehmen wollten. Das waren dann häufig Kinder, die entschieden sympathischer und meist weniger schwierig als die Eltern waren. Vielleicht lag das auch eher an ihm selbst, der mit Erwachsenen nicht so gut auskam. Erwachsen sein war nicht das, was er für sich anstrebte. Vernünftig sein, war nicht das, was er für nötig hielt, um ein schönes oder glückliches Leben zu führen. Ihn machte – meist zumindest – froh und glücklich, dass er nicht mehr jeden Tag zur Arbeit musste, dass er seine Praxis in der Wohnung hatte, genauso wie sein Büro, dass er gleichzeitig auch als Küche benutzte. Er hatte nie mehr als zehn Termine die Woche, ansonsten schrieb er für pädagogische und philosophische Zeitschriften Artikel. Auch da hatte er eine freie Zeiteinteilung. Natürlich gab es da Deadlines, aber er hatte immer genügend Puffer, er nahm nie zu viele Aufträge gleichzeitig an. Die Kinder brachten zwar nur ein kleines Honorar ein, die Artikel wurden nicht viel großzügiger entlohnt, doch wenn er es schaffte, ein paar Großverdiener als Klienten an Land zu ziehen, dann konnte er seinen nicht geringen Stundensatz ohne schlechtes Gewissen einfordern – und damit konnte er sich ganz gut über Wasser halten. Als er noch in der Schule gearbeitet hatte, gab es häufig Diskussionen zwischen ihm und seinen Schülern, die als Lebensziel immer wieder angaben, möglichst viel Geld anzusammeln. Er fragte daraufhin stets: „Und was machst du mit dem vielen Geld, wenn du keine Zeit hast, es auszugeben? Was machst du, wenn du jeden Tag zwölf Stunden schuften musst, manchmal auch am Wochenende? Was bringt dir dann das große Haus, das schöne Auto und der Riesen-Fernseher?“ Zeit war ein viel größerer Luxus für ihn und er wartete sein vorheriges Berufsleben immer nur darauf, möglichst daraus auszubrechen, aus diesem täglichen Einerlei, dem ständigen morgens um die gleiche Uhrzeit aufstehen, mit der gleichen Straßenbahn an die gleiche Arbeitsstelle fahren, mit den gleichen Leuten zu tun haben, die ewigen Hindernisse, weil man mit anderen Menschen zusammenarbeiten musste, die undurchschaubar waren, ständig etwas anderes dachten und machten als er. Sein großer Vorteil als praktischer Philosoph war, dass er sich nicht in eingefahrenen Schienen bewegte, dass er keine Ideen hatte, welche Ratschläge er berufsbedingt geben musste, vor allem wusste er oft nicht, was „man in solchen Fällen zu tun hat“. Sein Job ähnelte dem des Psychologen, aber es war noch offener, die Gespräche, die manchmal kaum Beratung genannt werden konnten, unbelasteter. Selbstverständlich waren die Klienten gelegentlich in existenziellen Krisen, weinten in Sitzungen oder waren am Rande des Zusammenbruchs, aber wenn das passierte, riet er ihnen zusätzlich einen Psychotherapeuten hinzuzuziehen, oder er gab ihnen einen Termin gleich für den nächsten Tag und suchte in der Zwischenzeit Texte, Filme und Lieder, die den Klienten oder die Klientin aufmuntern konnten. Schließlich waren die meisten, die den Weg zu ihm fanden, genau deswegen zu ihm gekommen...
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