Uferwechsel von Sunil Mann


Es ist sehr früh am Morgen, gemeinsam mit einem Freund, dem Redakteur eines Zürcher Stadtmagazins, gelangt der Privatdetektiv indischer Herkunft an einen Tatort. In dem
Waldstück nahe des Zürcher Flughafens wird eine Leiche geborgen: Ein junger Mann ausländischen Aussehens, der trotz des kalten Winters nur halb bekleidet ist. Der Körper ist steif gefroren, das Gesicht weist schwere Verletzungen auf. Überraschenderweise erhält Vijay Kumar am nächsten Tag den Auftrag, die Umstände des Todes aufzuklären. Erste Recherchen lassen die Vermutung aufkommen, dass sich der Tote im Radkasten eines Flugzeugs versteckt hatte, um illegal in die Schweiz einzureisen. Diese Vermutung gründet sich auf einen Fall, den Kumar vor Monaten in der Zeitung gelesen hatte. Er gibt diesen Tipp dem Ermittler bei der Schweizer Polizei weiter, und am folgenden Tag liest Vijay Kumar erstaunt einen Zeitungsbericht, in dem diese Hypothese ohne Nennung seines Namens, berichtet wird. Doch der Privatdetektiv merkt bald, dass jemand eine falsche Spur legen wollte. Die richtige führt ihn bald ins Stricher-Milieu und in die „schwule Szene“ Zürichs. Er wirft sich also in sein „schwulstes Outfit“ (bei dem er übrigens, wie sich bald zeigt, etwas daneben liegt) und erbittet sich Hilfe bei Miranda, ihres Zeichens transident und in der Szene unterwegs...
„Vom anderen Ufer sein“ ist ein Euphemismus für „homosexuell sein“. „Uferwechsel“ könnte nun übersetzt heißen, sich vom „Schwulsein zu befreien“ und „heterosexuell zu werden“ – oder eben umgekehrt. Geht das überhaupt? Es gibt religiöse Gruppen, Sekten, die das auch im Jahr 2012 noch denken: Der Bund Katholischer Ärzte (BKÄ) in München vertritt die These, nach denen Homosexualität psychische und Empfindungsstörungen sind, die psychotherapeutisch, homöopathisch und geistlich „geheilt“ werden können. Dieser Bund sorgte beim Kirchentag in Mannheim im Mai für einen Eklat, weil er Flugblätter solcher Art verteilt hatte. Eine Ausnahme? So betrachtet die CDU-Politikerin Katherina Reiche die Gleichbehandlung der ´kleinen Gruppe´ Homosexueller als Gefahr, die traditionelle Familie müsse geschützt werden, denn nur sie gewährleiste den weiteren Fortbestand der Gesellschaft. Zwar betont sie, dass man homosexuelle Beziehungen nicht diskriminieren dürfe, doch es wird klar, dass sie sie als Gefahr der patriarchalen Gesellschaft sieht, für die die klassische Geschlechtsrollenaufteilung notwendig erscheint. Bei näherem Betrachten erscheint diese für Konservative „staatserhaltende Maßnahme“ als nicht weniger homophob und wenig zeitgemäß als die Therapieversuche von der BKÄ.
Im Laufe seiner Ermittlungen kommt Vijay Kumar einer vergleichbaren Organisation auf die Spur, die ihren „Klienten“ verspricht, sie von ihrer Homosexualität zu befreien und sie auf die rechte Bahn zu bringen. Die Methoden dabei sind natürlich sehr fragwürdig. Und die Konsequenzen sind teilweise tödlich, wie der Privatdetektiv feststellt. Homophobie, und da muss man nicht erst in Putins Russland reisen, der homosexuelle Kundgebungen für die nächsten Jahrzehnte unter Strafe gestellt hat, und nicht in die bekanntermaßen sehr schwulenfeindlichen afrikanischen Staaten Uganda oder Ghana, sie ist auch in mitteleuropäischen Staaten weit verbreitet. Diversity Stellen in großen Unternehmen, CSD-Paraden in deutschen Städten und öffentliche Vorbilder aus dem gesellschaftlichen Leben, Wowereit, Westerwelle oder Kerkeling, scheinen darüber hinwegzutäuschen. Doch nach wie vor werden homosexuelle Menschen diskriminiert, von ihren Mitschülern, Kollegen, Vorgesetzten oder gar Familienmitgliedern verhöhnt. Bei homosexuellen Künstlern wird die Veranlagung hervorgehoben, als wäre sie die wichtigste Charaktereigenschaft. So liegt also nahe, dass es für manche Menschen auch heute noch verführerisch erscheint, von der Veranlagung befreit zu werden...
Sunil Mann scheint zu wissen, wovon er schreibt, er kennt nicht nur das Kiez rund um die Langstraße, in der Vijay Kumar lebt, sehr gut, sondern beschreibt das „schwule Leben“ detailgenau und stilsicher. Wie man auf den „blauen Seiten“ (Gayromeo: ein Chat-Forum für schwule Männer) chattet, auf welche Besonderheiten man da gefasst sein muss, welche Gepflogenheiten vorherrschen. Er kennt die Charaktere, von denen er erzählt, kennt ihre Sorgen und Nöte – sie sind authentisch und glaubwürdig. Der Autor lässt dabei durch seine Figuren tiefer in diese Szene einblicken, und Außenstehende erfahren Neues. 
Beim Aufbau seiner Geschichte gefällt vor allem, dass er die Sehnsucht nach Liebe und Suche nach Sex, die in diesem Fall im Mittelpunkt steht, mit der persönlichen Geschichte des Detektivs Kumar verwoben wird. Sein Vater hat Depressionen, Sehnsucht nach Indien und stellt sich die Sinn-Frage. Wie konnte das der Familie monatelang nicht auffallen? Die Mutter schnappt sich ihren Mann und verreist nach Indien. Aber nicht ohne dafür zu sorgen, eine Kontaktanzeige in die Zeitung zu setzen, damit ihr Sohnemann endlich an die Frau kommt. Stoff für viel Erheiterung. Unterhaltsam ist nicht nur das Umfeld des Privatdetektivs, der Schreibstil ist es genauso wie die Sicht auf die Welt, die der Erzähler uns zeigt. Großstädtisch, weltmännisch, immer mit einem Augenzwinkern, Latte Macchiato trinken und sich über die „Gentrifizierung“ ärgern, mit den Klischees spielend – der indische Whisky darf nie fehlen –, und doch offen und frei, zeitgemäß. „Uferwechsel“ von Sunil Mann, gerade im wunderbaren Grafit Verlag erschienen, macht definitiv Spaß und Lust auf mehr, ist größtenteils spannend und sorgt für ein überraschendes Ende. 
http://www.amazon.de/Uferwechsel-Sunil-Mann/dp/3894254076

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