schmerzwach feiert: Yihaaaa! Der 1500.Post!


Ja, das ist der 1500.Post! Das ist Wahnsinn ... Tralalalalala. Unglaublich! Das hätte ich vor fünf Jahren nicht erwartet. Dass ich so lange durchhalte, dass ich so viel schreiben werde - dass schmerzwach so viel "Content" bringt. Und jetzt ist es soweit!
Viele Gedanken habe ich mir gemacht: Was könnte der 1500.Post werden? Was schreibe ich? Eine schmerzwache Anekdote? Ein lustiger Beitrag aus einer meiner Reihen - "Kitchen Stories", "Darkroom Diaries", "Queere Videos", "schmerzwach reist ..." etc.? Oder etwas von Muffi? Oder etwas ganz Neues? Eine Innovation?
Letztendlich habe ich mich für ein noch nie veröffentlichtes Weihnachtsbild und eine Geschichte aus der dazugehörigen Zeit entschieden. Eine Geschichte, die noch nie in dieser Form veröffentlicht wurden, nur in Teilen - und die ich auch erst sehr selten vor Publikum gelesen habe - man muss etwas scrollen, aber ... :-) Viel Spaß!!! 

Rotweissblau

R.O.T.
Ich sitze in ihrer Küche. Mir wird mulmig. Wir haben bisher alles richtig gemacht. Das Blind-Date lief überraschend gut. Mich hat nicht gestört, dass sie dauernd rot wird. Als sie fragte: „Willst du noch zu mir rauf, einen Kaffee trinken?“, wurde ihr Gesicht fleckig und unansehnlich. Ich sitze in ihrer knallroten Küche. Während ich die Wände betrachte, wird mir schummrig. Heiß. Ich bekomme keine Luft. Hechele. Ich bitte um Wasser. Schütte es in mich hinein. Ich kann mich nicht mehr auf ihre Worte konzentrieren. Ich schwitze. Ich friere. Mich schüttelt es. Kurz gelingt es mir, sie anzusehen. Rot. Ein anderer Ton als die Wände. Sie lassen mich nicht klar denken. Schwindel. Ich muss raus. Sie bekommt einen leichten Anflug von Panik. Fragt mich, was mit mir los sei.  Ich stütze mich auf den Tisch, der dabei fast umfällt, stolpere über ihre Beine. Stoße mir den Kopf an der Lampe. Auf den Herd stützen, am Türrahmen festhalten. An der Flur-Wand entlang zur Haustür. Sie läuft irritiert hinterher. Fleckiges Gesicht. Sagt nichts, weint. Ich reiße die Tür auf. Stürze die Treppe hinunter. Was ist mit mir los? Ein Taxi. Bin bald zuhause. Im Bett. Falle in einen traumlosen Schlaf.
SMS: „Tut mir Leid! Ich bin eine Erythrophobin. Wollte dich nicht erschrecken. Kriege ich noch eine Chance bei dir?“ – „Es lag nicht an dir. Tut mir Leid. Werden uns wiedersehen. Bis dann!“
Im Büro werde ich nach meinem Date gefragt. Gut, sage ich. Sie wollen mehr hören. Machen Gesten dabei. Hast du? Nein. Aber? Es war unser erstes Date. Die Frauen freuen sich. Die Männer lachen sich ins Fäustchen. Versager. Ja? Was war mit mir los?
Als mein Kollege alleine mit mir ist, will er mehr wissen. Na? Nichts, nichts. Wir sehen uns wieder. Ach. Er sieht mich merkwürdig an. Ja, bis zu der Küche war ich souverän. Nein, ich finde sie nicht hübsch. Aber dieses Rotwerden hatte etwas Liebenswertes an sich. Ihre Art. Dieses Alternative. Sie ist ein bisschen neben der Spur. Sie ist anders. Emotional. Erzählt viel. Lustiges. Ich höre gerne zu. Ich bin anders. 
Heute Morgen war alles in Ordnung. Soll ich zum Arzt? Nein. Vielleicht lag es an ihr. Ganz sicher. Mir war alles zu viel. Bestimmt hat sie ihre Nervosität auf mich übertragen. Und dann dieses schreckliche Rot in ihrer Küche. Nein. Ich sollte mich mit einer Anderen treffen. Ja, das mache ich.
Chat: „Heute Abend also?“ – „Ja, gerne.“ – „Um acht in der Luna Bar?“ – „Ok.“ – „Ja, sehr gut, dann nehmen wir die Happy Hour noch mit! ☺“
Dieses Date gefällt mir. Die Frau ist blond. Hat eine gute Figur. Sie heißt Lilly. Sie redet auch auf Anhieb. Wieso bestellt sie eine „Red Bitch“?  Sie erzählt gerade von ihrem Beruf. Dann kommt der Cocktail. Ich starre ihn an. Erneut dieser Schwindel. Ich schütte meinen „Long Island Iced Tea“ herunter. Heiß. Kalt. Was ist nur los? Sie schaut mich an. Hält kurz meine Hand. „Alles klar bei dir?“ Ja, sage ich zu ihr. Sie erzählt weiter. Trinkt. Viel. Mir wird nicht besser. Schummrig. Ich höre noch zu, kann folgen. Bald bemerkt sie es nicht mehr. Sie ist betrunken, wird lustiger. Emotionaler. Wieder eine „Red Bitch“. Die Farbe ist grässlich. Ich rufe ihr ein Taxi, denn sie kann kaum noch auf ihren Füßen stehen und lallt. 
Chat: „Oh, tut mir Leid. Was denkst du jetzt von mir?! Eine Frau, die sich betrinkt?! Möchtest du mich überhaupt wiedersehen?“ – „Na klar, doch. Aber erst nächste Woche. Ich muss zu meiner Mutter fahren am Wochenende.“

Morgens wache ich irritiert auf. Ich hatte einen Alptraum: Ich befinde mich in einer Sporthalle. Sportunterricht. Ein Junge, der sich steif bewegt, kommt herein, als wir gerade Ball spielen. Er kann nur mit einer Hand fangen. Er muss aufpassen, dass aus dem anderen bandagierten Arm keine rote Flüssigkeit fließt. Es ist eigenartig, eklig sogar. Im nächsten Bild liegt er auf einem Krankenbett und wird behandelt. Der linke Arm ist voller Schläuche, die zum rechten Arm führen. Am linken Arm wird er abgestöpselt, am rechten wird der Verband abgemacht. So sieht man, dass da kein Arm ist. „Aber das hast du sicherlich selbst schon gesehen“, sagt die Krankenschwester. 
Ich melde mich krank, gehe nicht zur Arbeit. Mache einen Termin bei meinem Hausarzt aus. Er gibt mir, ohne mich zu untersuchen, eine Überweisung zum Psychologen. Ich lasse mich zwei Tage krankschreiben. Ich packe meine Sachen und fahre zu meiner Mutter. Die wundert sich, als ich zur Tür hereinkomme. „Ist etwas passiert?“ fragt sie. Nichts. Ich sage, dass ich mich etwas kränklich fühle und Suppe möchte. 
SMS: „Ich wusste das. Du meldest dich nicht. Ich kann nichts für mein Erröten! ☹“ – „Tut mir Leid, bin bei meiner Mutter. Melde mich, wenn ich zurückkomme.“
Es tut gut, sich bekochen und bemuttern zu lassen. Niemand kann mich erreichen. Kein Chat, Mobiltelefon aus.  Mein altes Zimmer ist wie damals. Meine Mutter klopft an. Fragt, ob ich nicht ein paar Dinge ausmisten möchte. Stofftiere, CDs, Videokassetten. Brauchst du das alles noch? Weiß ich nicht. Schaue mir alles an. Lege die Videokassetten in den Rekorder. Eine hat den Aufdruck Freiburg. Ich wusste nicht, dass ich die noch habe. 10 Jahre ist es her. Lange habe ich nicht mehr daran gedacht. 
Ich sehe mich. Ohne Haare. Weder auf dem Kopf noch am Körper. Kann kaum hingucken. Todkrank. Blass. Krankenschwestern laufen ins Bild. Andere Patienten. Ich laufe mit meinem Infusionsständer durch die Station. Filme jeden und alles. Leute rufen mir etwas zu. Tränen. Ich hatte die Bilder aus meinem Leben verbannt. Tagelang war mir während der Chemotherapie schlecht. Ich habe gekotzt, geweint. Gelitten. Und dann sehe ich mich im Bett liegen. Der Infusionsständer neben mir. Er piept. Die Krankenschwester stöpselt eine neue Flasche daran. In dem Schlauch, das über einen Infusionsport zu meiner Herzkammer führt, fließt rote Flüssigkeit. Langsam. Gemächlich. Rot. Und ich erinnere mich:
An die Nacht, in der ich sterben wollte. Die rote Flüssigkeit. Dieses teuflische Zytostatikum. Es läuft das erste Mal durch meinen Körper. Schummrig. Was ist nur los? Heiß. Ich lege mich hin. Kann nicht schlafen. Den Tag über habe ich ein Anti-Übelkeitsmittel erhalten. THC. Es macht mich müde, schläfrig. Jetzt am Abend kann ich nicht mehr einschlafen. Tagträume und Visionen. Schlaflosigkeit. Plötzlich Schmerzen. Bauchschmerzen. Sie zerreißen mich innerlich. Ich kriege Schmerzmittel. Oft. Bis es nicht mehr geht. Schmerzen. Nicht einschlafen können, leiden. Fragen: Wieso ich? Warum muss mir das zustoßen? Was habe ich getan? Wie lange soll das noch so gehen? Wann hat das Leiden ein Ende? Wie soll ich das alles nur aushalten? Und: Wäre es nicht besser zu sterben? 
Ich weine. Spule immer wieder vor und zurück. Schaue mir die rote Flüssigkeit an. Die „Red Bitch“. Diese grausligrote Wandfarbe in der Küche. Diese Nacht. Sterben. Schmerzen. Unbeschreibliche. Innerlich zersetzende. Aufplatzende. Verstörende. Verzweifelt machende. 
Alles hatte ich verdrängt. Ich weine. Schaue die Videokassette mehrmals an. Spreche die Dialoge mit. Lache über die Scherze. So wie wir oft gelacht haben in der Klinik. Lachen und Weinen. 
Ich schalte mein Mobiltelefon ein. Es erwarten mich einige Nachrichten.
SMS: „Meldest du dich sicher? Ich finde dich nett! Möchte dich gerne wiedersehen.“ – „Lass uns am Sonntagabend treffen. In meiner Küche. Sie ist weiß gestrichen. ☺“

W.E.I.S.S.
Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die von Herrn Rot und Frau Weiß. Die Namen sind allerdings irreführend, denn Herr Rot neigt zur Dauer-Blässe, egal zu welcher Jahreszeit, während Frau Weiß ständig erröten muss, sobald bestimmte Situationen eintreffen. Das Schicksal hat sie zusammengeführt. Das hört sich hochtrabend an, ist es aber nicht. Sie lernten sich in einem Chat im Internet kennen. Zwischendurch sah es so aus, als ob es bei einem einzigen Treffen bliebe. Und das liegt nicht überraschend am Zustand ihrer Haut, obwohl das nur eine der beiden Personen bewusst wahrnahm. 
Doch für die Wissbegierigen von uns fangen wir von vorne an, denn manche möchten alles verstehen. Frau Weiß hat die Krankheit Erythrophobie, was übersetzt „die Angst vor dem Erröten“ heißt. Selbstverständlich stammt das Wort, wie so viele Begriffe aus der Medizin, aus dem Griechischen, und hat mit der Farbe Rot zu tun. Sie ist eine stille Krankheit, die Betroffenen schweigen sich normalerweise darüber aus, dass sie dieses Gebrechen haben. Nicht so Frau Weiß. Lange Zeit hat auch sie versucht, dieses Malheur zu unterdrücken. In der Schule passierte es ihr oft, dass sie dank ihres Errötens als die Schuldige entlarvt und bestraft wurde. Selbst wenn sie nichts damit zu tun hatte. Die Schule, das muss nun erwähnt werden, war überhaupt Schuld an dieser Phobie, denn nach einem peinlichen Erlebnis im Sportunterricht manifestierte sich die Erythrophobie in Frau Weiß´ Kopf. Es entwickelte sich die Angst vor dem Erröten oder die Angst vor der Angst. Frau Weiß wollte lange Zeit etwas dagegen tun, doch es ging nicht. Denn diese Phobie ist nicht wie die anderen: Sie lässt sich nicht einfach so wegtherapieren, da sie vom Sympathikus abhängt und damit sehr viel körperlicher ist. 
Sie hatte eine Besserung vollbracht, aber ein besonderes Erlebnis ließ ihr Selbstvertrauen wieder unter den Meeresspiegel sinken, und somit die Erythrophobie wieder schlimme Ausmaße annehmen. Und hier kommt Herr Rot ins Spiel. 
Dieser hat eine eingeschränkte Wahrnehmung. Das ist nicht böse gemeint, sondern lediglich eine Feststellung. Er denkt von sich, er sei ein Karrierist, ein geradliniger, ehrgeiziger Mensch, der nichts für Schischi und Emotionen übrig hat. Er hält sich für einen Womanizer, einen Macho de Luxe, einen Liebling der Personaler. Selbst nach der Begegnung mit Frau Weiß denkt er dies und schiebt alles auf sie. 
Jetzt aber einmal langsam, alles der Reihe nach. Bereits beim Zusammentreffen der beiden im Restaurant fiel ihm auf, dass sein Date ein bisschen rot im Gesicht war. Ihr wiederum fiel ebenso rasch auf, dass er eine sehr blasse Haut hat, was sie allerdings ganz nach alter Sitte eher vornehm als unattraktiv wahrnahm. Herr Rot wähnte sich souverän, doch als es nach dem Essen darum ging, weitere Vorstöße in Richtung erfolgreiche Weiterentwicklung des Treffens zu tun, blieb er ruhig und wurde das erste Mal noch blasser, als er es ohnehin schon war. So musste Frau Weiß die Initiative ergreifen, was unser jugendlicher Held gerne verschweigt, und sich über die roten Flecken lustig macht, die sie bei ihren Versuchen, ihn zu sich nach Hause zu geleiten, bekam. 
Wirklich bleich, oder auch schon fast grün, wurde er allerdings in der roten Küche von Frau Weiß. Ihre Freunde machten ihre Witze darüber: Du willst also wenigstens in deiner Küche nicht mit deiner Röte auffallen. Und lachten darüber. Sie tat so, als ob sie sich ärgerte. Doch es entsprach der Wahrheit.  Nun saßen sie also in der Küche, was aufregend genug ist. Aber dann trat auch noch das bisschen, was man in seinem Gesicht „Farbe“ nennen könnte, aus diesem heraus, und er sah wie ein Albino aus. Wie ein Albino, der schwitzt und kurz vor dem Herzinfarkt steht. So sah es zumindest Frau Weiß, die überfordert war, und nun wirklich rotfleckig wurde, was auf den Schock zurückzuführen ist. Und die nichts anderes machen konnte als reagieren: Ihm mehrere Glas Wasser zu bringen, wie er verlangte. Ihn versuchte abzustützen, als er aufstand – das wiederum wollte er gar nicht. Im Gegenteil: In seinem Wahn stolperte er über ihre Beine, was ihr sehr leid tat. Ihr blieb nur noch hinterherzulaufen, während er aus der Wohnung stürzte, ohne Tschüss zu sagen, und ohne sich noch einmal nach ihr umzuschauen. Alleine zurückgeblieben, stand sie ratlos in der Küche, nahm ihr Mobiltelefon und schrieb ihm eine Kurznachricht, die er allerdings erst morgens beantwortete. Sie bat um eine weitere Chance bei ihm, obwohl sie sich fragte, ob es tatsächlich an ihrer Erythrophobie lag. Sie hatte ja auch nichts gegen seine Blässe, die sich ins Grünliche verabschiedete am Ende des Abends. 
Tagelang meldete er sich nicht. So etwas hatte Frau Weiß nicht zum ersten Mal erlebt. Sie traf sich oft mit Männern. Der Verdacht liegt nahe, dass sie in diesem Bereich eine sehr untypische, reflektierte und mutige Erythrophobin ist, denn andere fürchten sich viel zu sehr vor dem peinlichen Erröten und vergraben sich zuhause. Nicht so Frau Weiß, die Herrn Rot nicht vergessen wollte, gerade weil er so emotional und unbewusst sensibel war. Doch nichts. Sie wollte hartnäckig bleiben. Daher schrieb sie ihm erneut eine kurze Nachricht, die er erst einen Tag später beantwortete. Diesen Kommentar fand sie etwas kryptisch. Sie fragte sich, wieso er sie in seine Küche einladen möchte. Und wieso es so wichtig ist, dass diese weiß gestrichen ist. Außerdem war sie nicht besonders konkret. Sollte sie nun fragen, wann sie sich treffen? Oder sollte sie doch lieber warten, bis er sich meldete? Fragen. Und Frau Weiß hatte keine Antwort darauf. Also wartete sie darauf, dass etwas passierte.
Herr Rot drückte den Summer, um Frau Weiß in seine weiße Wohnung hineinzulassen. Sie war wirklich weiß. Die Einbauküche, Tisch und Stühle , alle elektronischen Geräte. Das gleiche Bild in den anderen Zimmern. Alle Möbel waren weiß, alle Wände waren weiß. Lediglich ein paar Accessoires und Bilder brachten ein bisschen Bunt ins Spiel. Es war bemerkenswert. Es passte. Frau Weiß musste sich eingestehen, dass sie es schön und auf eine gewisse Art und Weise aufregend fand. Wie Frau Weiß im Rot ihrer Küche verschwand, so verbarg sich Herr Rot im Weiß seiner Wohnung.
Nach der Führung durch seine Wohnung saßen sie in seiner Küche und redeten. Sie tranken Weißwein dabei, den sie nicht so gerne wie roten mochte, doch Herr Rot besaß zwar eine ordentliche Auswahl an Weinen, nur waren sie allesamt weiß. Nichts für ungut, dachte sich Frau Weiß, solange er heute nicht ganz so schwierig ist wie das letzte Mal. Sie fragte ihn nach dem letzten Treffen, was da geschehen war, und er begann eine Erzählung, die erst zwei Wein später ihr Ende fand. Und in der sie sich in ihn verliebte. Plötzlich sprang er auf, rannte aus der Küche, kam mit einem weißen Laptop zurück, drückte Tasten und sagte ihr, sie solle sich das Video einmal anschauen. Wie ein kleines aufgeregtes Kind hopste er um sie herum und rief ständig aus: Geil, geil, geil, oder? Frau Weiß war leicht verwirrt und bekam rote Flecken. Was ist denn nun? wollte Herr Rot nun wissen, doch sie hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Er rannte wieder hinaus und kam mit einer kleinen Videokamera zurück. 
Frau Weiß wusste nicht, was sie davon halten sollte, als die beiden Herrn Rots Schrank durchwühlten, um die passenden Klamotten auszusuchen. Er hatte alles da, sogar Frauenkleider. Sie entschlossen sich, sich gegengeschlechtlich anzuziehen. Sie im Smoking, er in Frauenkleidern und mit Perücke. Dann gingen sie ins Bad und stylten sich. Sie schminkte ihn. Er verbarg ihre langen Haare unter einem schicken schwarz-weißen Hut, den er im Flur aus einer Kommode zauberte, und malte ihr einen Schnurbart. Dann gingen sie in das Wohnzimmer, schafften sich ein bisschen Platz, stellten die Kamera auf ein Stativ und sich selbst in Positur. Dann ließen sie den Clap Clap Song der Klaxons laufen und tanzten wild. Abwechselnd im Ententanz oder wild abklatschend wie bei der Tarantella. Frau Weiß tanzte ausgelassen, Herr Rot lachte laut auf und fiel fast über seine eigenen Beine. Nach dem Lied sang Frau Weiß: Noch eins noch eins. Sie schlug vor, die Hiphop-Tanzstile Popping und Locking nachzuahmen. Sie suchten ein witziges Video im Internet und probierten es bei der Musik von Macarena und Ghostbusters nachzutanzen. Es sah sicherlich schauderhaft aus, dachten sich beide, aber es war verdammt lustig. Als sie sich ihre selbstgedrehten Videos anschauten, bekamen sie Lachanfälle und lagen sich dabei in den Armen. Herr Rot, der ganz weiß im Gesicht war, schaute Frau Weiß, die mittlerweile ganz rotfleckig war, an: Er küsste sie.
Frau Weiß und Herr Rot lagen nun im Bett, die Kleider fast gänzlich ausgezogen. Er hatte nur noch einen Damenslip und einen Büstenhalter an, sein Make-Up und vor allem der Lippenstift waren verschmiert. Er sah aus wie eine drogenabhängige Hure nach einer besonders aufreibenden Nacht. Sie dagegen sah aus wie ein Travestiestar, der sich gerade noch mit Schnurbart und Hut, aber nur noch in Männer-Shorts bekleidet, ins Bett legt und die Welt und den untreuen Liebhaber vergessen möchte. Sie sagte ihm, wie geil sein Schwanz in diesem knappen Slip aussehe, näherte sich diesem mit ihren Lippen, wollte ihn mit den Zähnen abstreifen. Doch Herr Rot stieß sie ab. Was ist denn los? wollte sie wissen, aber er antwortete ihr nicht. Er schien sich wieder so unwohl zu fühlen, schwitzte, sah ganz blass und hilflos aus. Dann fragte er, ob sie nicht einfach schmusen könnten. Sie willigte ein, dachte sich, dass das eine Enttäuschung sei, allerdings nicht besonders überraschend komme. 
Frau Weiß machte sich am nächsten Morgen Gedanken darüber: Man musste nicht gleich beim zweiten Mal ins Bett miteinander gehen. Sie kannte bisher keinen Mann, der das genauso sah. Außerdem, so dachte sie weiter, war die Situation einfach so, es hatte sich ergeben, und selbst sie hätte gerne wilden, hemmungslosen Sex gehabt, schließlich hatten sie sich in Stimmung getanzt und gesungen und geküsst. Was war nur mit diesem Mann los? 
Am nächsten Abend trafen sie sich erneut. Herr Rot nahm sie mit auf eine Party von Freunden. Die Wohnung war in Brauntönen gehalten, die Leute schienen Geld zu haben. Aber Frau Weiß war überrascht, wie abgedreht hier alle Gäste trotzdem waren, oder gerade deswegen? Sie wusste es nicht, ließ sich einfach treiben. Sie trank, lachte, redete, immer in den Armen Herrn Rots, der noch mehr trank, noch mehr lachte, aber gar nicht redete. Das ging den ganzen Abend so. Ihr wurde es zu viel, sie wollte nach Hause. Doch er wollte da bleiben, es sei ja noch früh. Sie bestellte sich ein Taxi. Herr Rot brachte sie nach unten, verabschiedete sich mit einem leidenschaftlichen Kuss bei ihr, und ging dann wieder nach oben. 
Frau Weiß war die nächsten Tage am Boden zerstört. Herr Rot nahm das Telefon nicht ab, beantwortete keine Nachrichten. Bei ihm Zuhause öffnete ihr niemand. 

B.L.A.U.
Von Lektoren erwartet man gemeinhin, dass sie mit Worten jonglieren können. Doch wenn das so wäre, wären sie wahrscheinlich Autoren geworden und damit auf der anderen Seite. Mir fällt es schwer, Dinge zu beschreiben, Geschichten zu erzählen. Alles könnte auch anders aussehen, anders passiert sein. Mir geht auch eine Sache ab: Das Beschreiben von Menschen. Weil ich sie zu wenig wahrnehme, zu wenig beachte. Frisuren kann ich mir nicht merken, Haarfarben genauso wenig wie Augenfarben. Für mich sehen alle irgendwie gleich aus. Wie Klischees von Personen. Besondere Merkmale merke ich mir nicht. Wieso mir jemand gefällt oder nicht gefällt – darüber mache ich mir selten Gedanken. 
Als ich mit Julia Weiß bei dieser Party war, überraschte mich also sehr, dass ich einen jungen Mann fasziniert betrachtete, und  ihn einfach nur schön fand. Wahrscheinlich sind hier zu viele Leerstellen. Ich beginne mit den Gastgebern und den Gästen auf dieser ominösen Party. Ein Schriftsteller namens Paul B., der in seinem Brotberuf Lehrer ist, und den ich betreue, feierte seinen Geburtstag. Er hatte mich eingeladen, weil wir uns mittlerweile angefreundet hatten. Es ist nicht so, dass wir uns oft treffen, aber gelegentlich sehen wir uns außerhalb des Verlags. Er könnte sich so eine tolle Wohnung nicht leisten. Dafür sein Lebenspartner, der ein erfolgreicher Architekt ist. Julia, die ja etwas alternativ ist und nicht gerade viel Geld hat, zeigte sich sehr imponiert von diesem Reichtum. Das machte sie mir nicht unsympathisch, aber besonders attraktiv fand ich es ebensowenig. Noch mehr interessierte mich allerdings, dass sie offensichtlich einige Vorurteile hat, was „reiche“ Menschen angeht. Sie müssten dumm und langweilig sein. Das waren diese Leute nicht, was sie überrascht und lauthals feststellte. Ich fand das amüsant, daher beobachtete ich sie eine geraume Zeit. Je mehr ich trank, desto lustiger fand ich es. Vor allem, weil sich der kurzsichtige Maler – sein Künstlername ist ganz abgedreht: Zottel Hormel –, der seine Bilder mittlerweile im guten fünfstelligen Bereich verkaufen kann, gleich im ersten Augenblick in sie verliebte. So versuchte er sie mit besonders witzigen Geschichten für sich zu gewinnen, obwohl ich eingehakt daneben stand. Sie war meine Begleitung. Aber mich kümmerte es ebenso wenig wie ihn, der es verstand, alle paar Minuten, weitere wichtige Menschen um uns zu scharen, so dass Julia immer beeindruckter wurde. 
Wieso sie sich verdammt noch mal nicht von mir losriss und mit dem Maler verschwand, verstand ich nicht, besonders nicht, als ich betrunken war. Ich wollte gar nicht an ihr hängen, sie ließ mich nicht mehr aus ihrem Griff. Dabei hatte ich durchaus Interesse daran, denn ich hatte Lust, mich mit diesem jungen Mann zu unterhalten. Das tat ich dann auch, aber erst als sie sich das Taxi genommen hatte. Sie gefiel mir zwar, und der Abend davor hatte mir sehr viel Spaß gemacht, aber bei dieser Party merkte ich, dass sie nicht meine Kragenweite hatte. Der junge Mann wiederum passte hier ebenso wenig hinein. Er war der Nachbar aus der WG von der Wohnung untendrunter. Ich weiß nicht mehr, wie er heißt, weil ich schon sehr betrunken war, als ich ihn ansprach, und weil danach noch so viel anderes passierte. Nennen wir ihn Simon. Ein Student, daran kann ich mich erinnern, mehr aber auch nicht. Das Bemerkenswerte war seine Stimme, seine Art zu reden, seine Sprache. Und hier beginnt mein Dilemma: Wie drücke ich das aus, was mich daran so faszinierte? Ich weiß es nicht. Doch ich kann sagen, dass ich an seinen Lippen hing, egal, was er sagte. Nun, es war wirklich gleich. Denn als er mich so eingelullt hatte, konnte er mir erzählen, was er wollte, ich hätte alles begeistert aufgesogen. Doch nach einer Zeit lenkte ich meine Aufmerksamkeit auf etwas anderes, was ihn auszeichnete. Allerdings kann ich das genauso wenig erklären. Wie heißt denn diese Stelle unter dem Kehlkopf, die bei ihm so schön ausgebildet ist? Ich kann es nicht sagen, ich kann es nicht beschreiben, aber ich musste sie minutenlang anschauen. Dieses Interesse für andere Männer war mir bisher entgangen. Die beiden Gastgeber waren schwul und ich war auch schon mit ihnen und ihren Freunden unterwegs gewesen, aber ich hatte nie ein Interesse, sie näher kennenzulernen. Auch bei Simon dachte ich nicht an Sex, ebenso wenig an Küssen. Ich wollte mich an ihn lehnen, ich weiß nicht warum. 
Das war also das erste Mal, dass ich gerne mit einem Mann nach Hause gegangen wäre, doch er fragte mich nicht. Im Gegenteil: Er verschwand mit der Nichte des Architekten und schien dabei ganz glücklich zu sein. Sie ist ein sehr junges und hübsches Mädchen. So stand ich nun allein im Gang, doch ich blieb es nicht lange. Ein Freund des Schriftstellers, wenn ich mich recht erinnere heißt er Max, gesellte sich nun zu mir, wahrscheinlich ermutigt durch die Beobachtung, dass ich sehr lange Zeit versuchte, einen jungen Mann zu becircen. Dieser Typ war genauso jung, aber nicht so hübsch. Ich fand ihn grob, weil er ständig sexuelle Anspielungen machte, die mich kalt ließen oder sogar anekelten. Ich hatte Simon faszinierend gefunden, legte es aber nicht darauf an, mit einem Mann nach Hause zu gehen. So war der Stand der Dinge. 
Die Party dämmerte ein wenig vor sich hin. Kaum jemand war noch da. Es war kurz vor fünf, wie ich später rekonstruierte, aber in diesem Moment kam es mir vor, als wäre erst zwei Uhr oder früher. Ich könnte nicht sagen, mit wem ich noch geredet hatte und was. Aber so geht es mir meist auf solchen Feiern. Ich betrinke mich so sehr, dass ich peinlich werde und/oder am nächsten Tag nicht mehr genau weiß, was passiert ist. Vielleicht werde ich deswegen häufig eingeladen. Allerdings war mir noch nie passiert, was im Anschluss an diese Party geschah. Ich brauchte einige Zeit, um alles zusammenzukriegen, aber so genau ist da kein Verlass. Es könnte alles auch anders abgelaufen sein.
Als Jugendlicher hatte ich eine Zeit lang probiert zu schreiben. Meine Faszination um das geschriebene Wort war so groß, dass ich dachte, ich müsste Schriftsteller werden. Erst später bemerkte ich, dass ich eher zu einem Lektor geeignet bin. Aber was ich eigentlich erzählen möchte: Zu dieser Zeit passierte es mir dauernd, dass ich Realität, Fiktion und Träume miteinander vermischte. Das war manchmal beängstigend, manchmal faszinierend schön. Ich konnte nicht mehr auseinanderhalten, was mir tatsächlich passierte, was in meinen Träumen und was ich mir erdichtete. So ähnlich ist es mit diesem frühen Morgen. Es war also fünf Uhr. Ich musste nicht weit zu mir nach Hause laufen, denn ich wohnte in der Nachbarschaft des Schriftstellers. Doch dazu kam es gar nicht, denn jetzt mischten sich „die Außerirdischen“ ein. 
Als ich auf dem Bürgersteig stand, hielt ein Auto vor mir, die Marke weiß ich nicht, es war klein und sportlich, aber das könnte alles sein, mit Autos kenne ich mich nicht aus. Zwei junge Männer saßen in diesem Wagen, stiegen aber sogleich aus. Da bemerkte ich erst, dass die beiden mit nacktem Oberkörper herumliefen. Der eine war sehr dick und unansehnlich, der andere sehr jung und sportlich durchtrainiert, Adonis gleich. Als ich diesen verwundert anstarrte, zog er sich ein T-Shirt über. Nichtsdestotrotz versuchte er mich zu überreden, in dieses Auto einzusteigen. Ich sagte, dass ich nur in mein Bett wolle, welches sich ungefähr zwei Minuten entfernt von hier befinde. Doch sie überredeten mich. Es lag an diesem jungen hübschen Mann, dessen Namen ich mir richtig gemerkt habe: Tom. Tagelang bildete ich mir ein, dass ich mir den Namen nur einbildete. 
Nun saß ich in diesem Auto und weiß nicht, was mir durch den Kopf ging, denn nüchtern betrachtet ist das natürlich grober Unsinn: Sich in ein Auto zu Fremden zu setzen, die einen in ein heruntergekommenes Viertel mitnehmen wollen, um weiter zu feiern.  Die hätten ja auch Weißgottwas mit mir anstellen können. Taten sie auch, aber irgendwie… Also in diesem Moment dachte ich nichts Böses. Ich weiß nicht, was wir redeten. Ob überhaupt jemand mit mir redete. Ich schaute Tom an. Und fragte mich vermutlich, wieso ich nun ihn anschmachtete, nachdem ich vorhin schon Simon wunderschön fand. Was war nur mit mir los? Aber vielleicht dachte ich auch gar nichts. Ich war schließlich betrunken. 
Ich weiß nicht, wie das Haus aussah, weiß nicht, ob er alleine wohnte oder mit anderen. Ich habe allerdings noch vage sein Zimmerchen im Gedächtnis, das sehr unordentlich jugendlich war. Ein typisches Kiffer-Zimmer mit Gitarre in der Ecke, mit viel Krempel, mit Müll auf dem Tisch, auf dem Boden, Klamotten überall, Aschenbecher und Zigaretten, einer Bon, viel Technik, einer Million CDs, so wie man sich das alles vorstellt. Ich habe kaum noch Freunde, die so leben. Der Dicke setzte sich auf einen Sessel. Tom und ich auf das Sofa, sehr nah beieinander. Ich kann mich bruchstückhaft daran erinnern, dass ich mich völlig auf ihn fixierte, so gut wie nur mit ihm redete. Unsinnigerweise, und ich kann mir überhaupt nicht mehr erklären wieso, unterhielten wir uns über Literatur. Er versuchte mich davon zu überzeugen, dass Ken Follett das Maß aller Dinge beim Schreiben sei. Natürlich wollte ich ihn dazu bringen, einmal Bücher von Philippe Besson oder von meinen Autoren zu lesen. Sogar zu einer Lesung lud ich ihn ein. Begeistert speicherte er sofort meine Nummer in sein Mobiltelefon, um mich deswegen anzurufen. Dieses Interesse lag vermutlich an den Drogen, doch es freute mich, so oder so. Im Nachhinein überlegte ich mir, dass die Literatur ein Code für uns beide war, Interesse am anderen zu zeigen. Ich streichelte ihn am Bein, er ließ mich gewähren.
Es war alles merkwürdig. Er schob mir den Johnny zu, ich zog daran. Er begann ein Gespräch, ich führte es weiter. Und dann geschah etwas, was ich niemals vermutet hätte. Soll ich es auf den Alkohol schieben? Auf das Kiffen? Auf die Geilheit? Und woher kam diese Geilheit plötzlich? Er reichte mir eine CD, auf der sich eine kleine Schicht weißes Pulver befand. Er drückte mir einen zusammengerollten Geldschein in die Hand. Genauso wenig wie ich Angst davor hatte, mit diesen Fremden mitzufahren, obwohl ich ja im Gespräch mit dem Dicken erzählt bekommen habe, dass er auch gerne mal eine Knarre rausholt, wenn es ihm zu bunt wird, hatte ich jetzt Angst, dieses Zeug zu nehmen. Ich schaute Tom mit hochgezogener Augenbraue an. Ich sog das Pülverchen in meine Nase hinein und fragte ihn, ob ich es richtig gemacht habe. Er sagte, dass es gut aussah. Wahrscheinlich freute ich mich darüber. 
Mehr weiß ich nicht. Es wurde hell, wir saßen da und quatschten, nahmen Drogen, tranken Bier. Irgendwann entschloss ich mich zu gehen. Ich fragte idiotischerweise Tom, ob er mich nach Hause fahre, doch er konnte nicht, was ganz gut war. Ich schwankte aus der Wohnung, aus dem Haus, auf die Straße, sah eine Haltestelle. Ich stieg in die Bahn, ohne Fahrkarte, und in der Hoffnung, nicht in die falsche Richtung zu fahren. Ich weiß gar nicht, wie ich gefahren und wo ich umgestiegen bin. Fakt ist, dass ich zuhause ankam. Ich war sogar in der Lage, mein T-Shirt feucht zu machen und  mit Salz zu bestreuen, weil jemand Rotwein über mich geschüttet hatte, meinen besten Freund Fabian anzurufen und eine Nachricht an Tom zu schicken. 
Tagelang wartete ich auf ein Lebenszeichen von ihm. Julia war mir mittlerweile egal geworden, und ich fragte mich, ob ich das erste Mal in meinem Leben verliebt sein sollte. Vielleicht erklärten sich dadurch meine Probleme mit Frauen. Also, dass sich nie etwas Ernstes ergab, es meistens bei zwei oder drei Dates blieb, meist vor dem Sex endete, und sich nie tiefe Gefühle bei mir einstellten. Stand ich nicht auf Frauen? Aber auf Männer bis zu diesem Zeitpunkt ebenso wenig. Das gab mir Rätsel auf. Ich tat meine Arbeit, unterließ das Chatten mit Frauen, anstatt dessen traf ich mich mit Fabian, der immer ein Ohr für mich hatte. Wir trafen uns meist in der Weinstube bei mir über die Straße, ich ertränkte meinen Liebeskummer. Vielleicht war es nicht so intensiv wie er in der Pubertät gewesen wäre, aber es reichte mir. Ich kannte dieses Gefühl nicht. Wir gingen auch in Ausstellungseröffnungen, ins Kino oder Theater. Nicht, dass mir etwas davon wirklich Spaß gemacht hätte, im Gegenteil: Ich genoss die Stunden in meiner Wohnung mit trauriger Musik viel mehr, doch Fabian, der für mich wie ein Guru war, vertrat die Ansicht, er müsse für Input für meinen kranken Geist sorgen.
Zwei Wochen nach dem Koksen torkelten wir aus einem feinen Club, Fabian und ich, beide eine Frau im Arm, wer auch immer das war, da stand plötzlich Tom vor mir. Ich weiß nicht, wo er hergekommen war, aber offensichtlich hatte er in der Disco gegenüber gefeiert. Ein paar seiner Kumpels standen neben ihm, ohne weibliche Begleitung. Tom fragte uns, ob er sich uns anschließen dürfe, seine Freunde würden nun nach Hause laufen. Natürlich sagte ich sofort zu.
Nicht einmal Fabian konnte mir erklären, wie das alles passieren konnte. Letztlich hatte er die Mädchen mit zu sich nach Hause genommen und ich teilte mein Bett mit Tom. Also, nicht dass wir etwas gemacht hätten. Wir lagen beide nackt im Bett, aber waren viel zu betrunken, um Sex zu haben. Wir haben uns nicht einmal geküsst. Wir lagen einfach nur zusammengeknäuelt im Bett, was ich irgendwie romantisch fand. Bei Frauen hatte ich das nie gekonnt, da wollte ich mich sofort wegdrehen. 
Er wachte sehr viel später auf als ich. Ich hatte bereits Brötchen geholt, Kaffee gekocht, den Frühstückstisch gedeckt. Es war etwa zwei Uhr nachmittags. Ich legte mich noch einmal zu ihm ins Bett, kuschelte mich an ihn. Und da küsste ich ihn das erste Mal. Auf den Mund. Auf die Wangen. Ich küsste jeden seiner Körperteile. Seine Haare, seine Beine, seine Hände… Ich sah, dass er mittlerweile auf war, aber seine Augen geschlossen hielt. Er lächelte verschmitzt. Ich sagte ihm, das Frühstück stehe bereit, doch er erwiderte, dass er zuerst, etwas anderes machen wolle…
Ich schloss dabei die Augen, sah Grasgrün, sah Fuchsienrot, Osterglockengelb, Meeresblau, sah Tulpenlila, sah alle Farben gleichzeitig und keine, explodierte Farbtöpfe sah ich und wusste nicht, wie mir geschieht, was mir geschieht. Es fühlte sich zuerst hart an und so, als würde etwas stecken bleiben, dann aber war plötzlich etwas anderes, etwas Unbeschreibliches, etwas wie Das-ist-das-also oder ein Scheiße-Mann-jetzt-aber. Und ich quiekte, ich jaulte, weil es kitzelte und gleichzeitig wehtat und gleichzeitig floss und gleichzeitig andere Körperstellen zu einer wurden, zu einem wohligen Gefühl, kalt und heiß zusammen, sektprickelnd, goldfarben und leuchtend. Und ich zitterte, kalt und heiß zitterte ich es heraus, und wohlig und warm, und kalt und stark. Und ich konnte nur die Augen geschlossen halten, alles verschwamm, wurde silbrig oder weiß. Und ich dachte, es fließt in mich hinein oder alles wieder heraus, und ich dachte, ich pralle gegen eine Wand, aber dann tat ich es nicht, im Gegenteil, es wurde ganz weich und schön und ich dachte so etwas wie Ja-Mann-das-ist-Liebe-Mann-Liebe-ist-das.
So vieles hatte ich nicht gewusst vorher: Wie sich ein anderer Schwanz in der eigenen Hand anfühlt, wie es ist, von einem Mann an bestimmten Stellen berührt zu werden, und vor allem: Wie es ist, wenn man jemanden begehrt nicht um des Begehrens willen, sondern weil man den Menschen anziehend findet, ja mehr, wie es ist, in jemanden verliebt zu sein und mit ihm das erste Mal, etwas zu erleben, das man sich tagelang ausgemalt hatte. Das musste es sein. Das, was ich nicht gekannt, immer in den Werken meiner Autoren gelesen hatte, mit Unverständnis und Faszination. 
Wir blieben unser erstes gemeinsames Wochenende im Bett. Freitag nachts oder Samstag morgens, je nachdem, schliefen wir ein. Und Montagmorgen, als ich zur Arbeit musste, ging er erst wieder. Er hatte erst mittags Schicht. Wir schauten Videos, hörten Musik, konsumierten Drogen, er hatte genug zum Kiffen und Koksen dabei, und wir fickten. Ihm ging es nicht anders als mir, sagte er zumindest. Wir waren beide Jungfrauen gewesen, was die gleichgeschlechtliche Liebe anging. Und jetzt testeten wir alles aus. Wir schmeckten uns, unsere Körperflüssigkeiten, wir erkundeten uns, die Körperstellen, die wir vorher nicht bei anderen Menschen gekannt hatten, der Schwanz war wieder zu einem neu zu erkundenden Objekt geworden, wie damals in der Pubertät, und ebenso der Anus und alles dazwischen. Ebenso alles, was mit den Brustwarzen zu tun hatte, alles mit der Achsel, mit der Knie-Innenseite, alle erogenen Zonen entdeckten wir an uns, und die Zeit des Rein-Raus-Frau-hoffentlich-glücklich-ich-aber-nicht war vorbei. 
Völlig zugedröhnt lagen wir nachts im Park, Tom und ich. Ich liebkoste ihn mit der Zunge, führte sie an all seine Körperstellen. Er stöhnte wohlig auf. Es trieb mich an, noch tiefer einzudringen, ihn noch mehr zu reizen. Ihn zum Schreien zu bringen, so wie ich es am liebsten mochte, wenn wir uns gegenseitig fickten. Da hörten wir ein Geräusch. Wir hatten sie nicht wahrgenommen und sie versuchten unbemerkt an uns vorbeizulaufen, ihre Scham nicht zu unserer werden zu lassen. Zugedröhnt wie ich war bekam ich plötzlich einen Lachanfall, als ich in diesen beiden braven Menschen Julia und diesen kurzsichtigen Maler erkannte. Sie waren mit Wein, Gläsern und einer Picknickdecke in den Händen beladen.

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