Haben Sie jemals einen Rückfall erlitten?


Wie wichtig es ist, das Thema Coming-out in einem Jugendbuch einzubinden, insbesondere, wenn darin auch noch eine erste Liebe zwischen einem deutschen und einem türkischen Jungen vorkommt, zeigte sich beim Literatürk-Festival 2012. Ich durfte Donnerstag (4.10. übrigens am Jubiläum der Veröffentlichung) in Essen im Gymnasium Nord-Ost lesen und mit etwa 90 Jugendlichen diskutieren...

"(...) Ich war heute bei Ihrer Lesung am Nord-Ost-Gymnasium dabei und würde gerne noch etwas sagen. 
Zuerst einmal Respekt, dass Sie es geschafft haben, ein eigenes Buch rauszubringen. (...)
Dann sind mir heute die vielen Kommentare aufgefallen und ich musste mich echt zurückhalten. Es geht einfach nicht in meinen Kopf, wie Homosexualität für einige unnormal sein kann oder wie man es mit einer Krankheit vergleichen kann, bei der man dann irgendwann wieder 'normal' wird. 
Ich wünschte, viel mehr Leute würden offener damit umgehen und endlich mal verstehen, dass alle Menschen gleich sind und man über niemanden urteilen sollte. 
Auf jeden Fall fand ich Ihre Lesung heute sehr gelungen und es hat Spaß gemacht Ihnen zuzuhören.
Ich wünsche Ihnen noch viel Glück auf Ihrem weiteren Wege und hoffe, dass sie vielleicht irgendwann einer von den Zweien sind, die vom Schreiben leben können, Sie hätten es verdient! (...)"
Diese Nachricht erhielt ich noch am Donnerstag Abend. Sie hat mich sehr stolz gemacht und sie spiegelt sehr gut wieder, was da passiert ist. 90 Jugendliche. Jugendliche, wie sie auch in "Plattenbaugefühle" vorkommen. Jugendliche, die genau meine Zielgruppe sind. Jugendliche, die sich sehr respektvoll benommen haben, sehr sympathisch und offen waren, sehr mutig auch, denn... sie trauten sich ihre Meinung zu äußern. Ein Junge sagte, dass wenn er einen schwulen Sohn bekommen sollte, ihn ohne zu überlegen verstoßen würde. Schockierend einerseits, ehrlich andererseits. Bei manchen Kommentaren, die es gab - wie eben bei diesem - fragte ich mich, wie ich reagieren sollte. Ich hätte es nicht in Ordnung gefunden, jemanden, der sich traut, vor so vielen Mitschülern am Mikrofon zu reden, ihn dafür zusammenzustauchen. Jeder darf seine eigene Meinung haben. Und das einzige, was man tun kann, ist  "aufzuklären", sich zu öffnen, seinerseits zu sagen, was man denkt und was man weiß. Die Mädchen waren natürlich sehr viel offener für andere Lebensweisen als die Jungen, die Jungen beriefen sich immer wieder auf ihre andere "Kultur" und ihre andere "Religion". Als sich die Meinungen der Jungen am Mikrofon in eine "positivere", "tolerantere" Richtung bewegten, meldete sich ein sehr netter junger Mann und fragte seine Freunde, wieso sie plötzlich so auf tolerant täten, nur weil ich da sei, ein Schriftsteller, ein Homosexueller, "nachher redet ihr unter uns wieder ganz anders", sagte er. "Nichts gegen Sie", sagte ein anderer, aber "schwul" ist doch schon ein Schimpfwort, und auch völlig zurecht.
Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass wir nur noch fünf Minuten haben sollten, jede Menge Wortmeldungen noch warteten angehört zu werden, daher beschlossen wir spontan, eine halbe Stunde zu verlängern und wechselten den Raum. Einige Schüler/innen kamen dann tatsächlich noch freiwillig dazu, um weiter mit mir zu reden. Ich fand dieses Interesse, diese Neugier sehr sehr schön, Interesse an mir, an der Geschichte von Jonas, an Homosexualität. Wie ich denn schwul geworden sei? Ob ich jemals einen "Rückfall" erlitten habe? Auch das wurde ich gefragt. Rückfall? Wenn man Homosexualität als Krankheit betrachtet... ;-) Und eine Schülerin sagte, dass sie ein anderes Ende erwartet hätte, eine mögliche Version wäre für sie gewesen, dass Jonas mit Erol zusammengekommen wäre und sie am Ende auf dieser Bank im K6 in Kranichstein sitzen und zärtlich zueinander sein könnten...
Es war ein hartes Stück Arbeit: zu lesen, die Diskussion anzukurbeln, die Kommentare auszuhalten, sich so zu öffnen, wie ich es immer tue, meine eigene Homosexualität zu thematisieren, mich als Experte in einem Thema zu präsentieren und nicht "nur" als Schriftsteller, der über etwas schreibt. Das erschien mir in diesem Moment sehr wichtig. Ich wurde gefragt, ob ich nicht Angst gehabt hätte, davor z.B., dass die Jugendlichen eben nicht mit Respekt, Interesse, Neugierde reagieren würden, sondern aggressiv, feindselig, respektlos. Ich hatte keine Angst. Wieso auch? Sie lachten, während ich las. Sie lachten auch, wenn ich meine Anekdoten auspackte. Und sie kamen gerne nach vorne ans Mikrofon, um zu reden. Es war eine der lautesten Veranstaltungen, die ich jemals hatte. Aber viel besser so, als wenn die Leute keine Regung zeigen, wenn ich vorne den Augustin mache. DAS gab es auch schon! Im Gymnasium Nord-Ost möchte ich öfter lesen... Es hat richtig großen Spaß gemacht - und war eine noch größere Herausforderung als das Schaufenster-Lesung, nur eben auf andere Weise. :-) Noch ein letztes Wort: Ein Lob natürlich auch an die Veranstalter/innen, so mutig zu sein, mich einzuladen, ein Lob auch an die einladende Lehrerin, die nicht nur positive Stimmen aus dem Kollegium im Vorfeld zu hören bekommen hatte... Homosexualität ist nach wie vor ein schwieriges Thema - und muss öfter und selbstverständlicher in den Unterricht integriert werden. 

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